Assads Erfolg in Idlib ist eine Niederlage für die Türkei
Syrien Erdogans Bündnis mit Putin stößt an Grenzen. Ankara fürchtet eine Fluchtwelle aus der letzten Rebellen-Hochburg
Istanbul Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin können gut miteinander. Seit Jahren kooperieren die beiden Präsidenten im Syrien-Konflikt, obwohl ihre beiden Länder gegensätzliche Grundinteressen in dem Bürgerkriegsland verfolgen. Doch jetzt stößt das Bündnis der beiden Präsidenten an seine Grenzen. Ein syrischer Luftangriff auf einen türkischen Militärkonvoi in der Rebellen-Provinz Idlib und neue Erfolge beim Vormarsch von Regierungstruppen in der Gegend offenbaren die Differenzen zwischen den beiden Akteuren. Für Russlands Schützling, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, rückt das Ziel einer Eroberung von Idlib näher. Die Türkei befürchtet eine neue Flüchtlingswelle.
Seit April greift Assads Armee mit russischer Luftunterstützung in Idlib an. Zunächst kam die Offensive wegen des Widerstandes der Dschihadisten-Miliz HTS und Rebellengruppen mit türkischer Unterstützung kaum voran. Nun aber konnte die Armee die Stadt Chan Scheichun einnehmen.
Ein Konvoi der türkischen Armee mit Panzern kam am Montag in der Nähe von Chan Scheichun unter Beschuss syrischer Kampfjets. Nach Darstellung der Regierung in Ankara sollte der Konvoi die Besatzung eines türkischen Beobachtungspostens in Morek versorgen, der rund fünf Kilometer südlich von Chan Scheichun liegt. Die syrische Regierung sagt dagegen, die Türken hätten Nachschub für Rebellen in der Stadt transportiert. Ankaras Beobachtungsposten in Idlib waren 2018 im Rahmen einer Vereinbarung von Erdogan und Putin eingerichtet worden. Mit ihrer Hilfe sollte die Lage in der Provinz beruhigt werden, in der mehrere zehntausend Rebellenkämpfer und rund drei Millionen Zivilisten leben – viele von ihnen sind aus anderen Landesteilen Syriens dorthin geflohen.
Doch von Beruhigung kann keine Rede sein. Die türkische Regierung protestierte, der Luftangriff auf den Konvoi widerspreche den türkischrussischen Vereinbarungen. Putin machte jedoch klar, dass er nicht daran denkt, Assad zurückzupfeifen. Russland unterstütze die Bemühungen der syrischen Armee zur Bekämpfung von „Terroristen“.
Die Kämpfe in Idlib werden deshalb wahrscheinlich weitergehen. Möglicherweise werde sich Ankara gezwungen sehen, den Beobachtungsposten in Morek aufzugeben, sagte Kerim Has, ein Experte für die russisch-türkischen Beziehungen, unserer Redaktion in Istanbul. Dass Ankara den Kreml umstimmen kann, ist unwahrscheinlich. Die Türkei ist in Syrien von Russland abhängig und hat sich mit dem kürzlichen Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems noch enger an Moskau gebunden.
Aus diesem Grund sind der Angriff auf den türkischen Konvoi und Putins Reaktion darauf so wichtig: Wenn Russland nicht bereit ist, Assads Offensive in Idlib zu stoppen, könnte die letzte Rebellenbastion in Syrien bald fallen. Schon jetzt suchen hunderttausende Zivilisten in Idlib Schutz an der Grenze zur Türkei – ein Großangriff könnte eine neue Massenflucht ins Nachbarland auslösen. Für die Türkei, die schon jetzt 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge versorgt, wäre das eine Katastrophe. Bei den Türken wächst der Unmut über die vielen Flüchtlinge im Land, die Opposition spricht von einem Scheitern der türkischen Syrien-Politik. Erdogan könnte sich deshalb versucht sehen, seine Armee wie angedroht in das syrische Kurdengebiet im Nordosten des Landes zu schicken. Dort will die türkische Regierung eine „Sicherheitszone“schaffen, um Flüchtlinge aus Syrien anzusiedeln.
Ein neuer Massenansturm aus Syrien könnte auch Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen zwischen der Türkei und der EU haben: Ankara wird möglicherweise mehr Geld von Brüssel fordern, um die Neuankömmlinge an der Weiterreise nach Europa zu hindern.