Kippmomente des Lebens
Kronauers letztes großes Werk
Noch einmal ein präzises Wimmelbild, ein prallvolles Panorama unserer brüchigen Gegenwart: In ihrem letzten Buch „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“erweist sich die im Juli verstorbene Brigitte Kronauer erneut als meisterhafte Sprachkünstlerin und Geschichtenerzählerin. Diese fast 600 Seiten Prosa kommen nicht als pompöses Zeitgemälde daher, sondern erweisen sich als feinnerviges Passagenwerk, zusammengehalten von der Energie dieser Autorin, die auch die unscheinbarsten Details zum Leuchten bringt. Die Ich-Erzählerin hat sich in das Haus eines Ornithologen-Ehepaars zurückgezogen und wird von den Vogelbildern an den Wänden bedrängt. Die stummen Tiere erinnern die Ruhesuchende an lebende Menschen, und dann breitet die Autorin ihren Fundus vor uns aus, über 30 Ge- schichten, alle nur um die zehn Seiten lang. Da begegnen uns Ehepaare und Einzelgänger, Millionenerben und Arbeitslose, Handwerker und Opernsängerinnen, Altenpfleger und Gärtner, ein Jugendlicher in der Shopping-Mall und ein Mann im Gebirge, der um seine Frau trauert. In diesen Porträts geht es oft um die Kippmomente im Leben, die prekären Augenblicke, die feinen Risse in der Wirklichkeit. Kronauer erforscht den Eigensinn in uns allen und taucht selbst scheinbar Banales in mitunter überirdisches Licht.
Klett-Cotta, 596 Seiten, 26 Euro