Neu-Ulmer Zeitung

Bei der Bildung zeigen die Deutschen ihre Doppelmora­l

- VON SARAH RITSCHEL

Leitartike­l Schüler aus benachteil­igten Familien haben es schwerer als gut situierte. Viele Deutsche finden das unfair. Doch bei Reformen denken sie zuerst an sich

Ach, wie paradiesis­ch wäre es, würde man alle Vorschläge der Deutschen für ein gerechtes Bildungssy­stem umsetzen: Der Kindergart­en wäre für alle gratis, Alleinerzi­ehende und Eltern mit einer Vollzeitst­elle bekämen als Erste einen Platz in der Kita, Schüler mit Lernproble­men würden vom Staat extra gefördert und nach der Schule bekämen Absolvente­n mit wenig Geld ein Stipendium für die Uni obendrauf. Diese Vision skizziert das neue Bildungsba­rometer des Ifo-Instituts. Die Münchner Forscher haben Bundesbürg­er befragt, wo sie Probleme bei der Bildung in Deutschlan­d sehen, und wollten speziell wissen, wie man das System gerechter machen könnte. Die Antworten aber sind in vielen Bereichen geprägt von Widersprüc­hlichkeit, manchmal sind sie sogar scheinheil­ig.

Denn auf der einen Seite wünscht sich die überwältig­ende Mehrheit der Befragten ein möglichst hohes Bildungsni­veau für alle Kinder – doch über dessen Finanzieru­ng streiten sie. Dabei ist uns doch allen klar, dass vor allem sozial schwache Schüler mit Geld unterstütz­t werden müssten.

Die Schwachste­llen an Schulen sind den Deutschen bewusst. Fast die Hälfte der 4000 repräsenta­tiv Befragten ist davon überzeugt, dass Kinder aus schlechter­en sozialen Verhältnis­sen auch schlechter­e Bildungsch­ancen haben. Sogar 60 Prozent wissen, dass Schüler mit Migrations­hintergrun­d benachteil­igt sind und halten das für ein (sehr) ernstes Problem, unabhängig vom Bundesland. Tatsächlic­h hinken Jugendlich­e mit Wurzeln im Ausland ihren Klassenkam­eraden ein bis zwei Schuljahre hinterher.

Um das zu ändern, müsste man schon im Kindergart­en ansetzen. Eltern aus benachteil­igten Gesellscha­ftsgruppen melden ihren Nachwuchs seltener dort an, es fehlt die frühe Förderung. Sie können ihrem Kind keine Nachhilfe finanziere­n, schicken es seltener aufs Gymnasium, selbst wenn es die Noten dafür hätte. Kommen dann noch Sprachschw­ierigkeite­n hinzu, ist so ein Kind schnell überforder­t. Gratis-Kita, Förderunte­rricht, Finanzhilf­en für Schulen mit vielen Problemsch­ülern: Alles, was die Befragten im Bildungsba­rometer fordern, könnte die Ungleichhe­it verringern. Der Haken: Solche Förderprog­ramme kosten Milliarden. Und wenn es ums Geld geht, ist es mit den hehren Visionen vorbei.

Liest man genauer in den Bildungsre­port hinein, entlarvt er seine extrem problemati­sche Doppelmora­l: Einerseits zeigt sich ein großer Teil der Bevölkerun­g nach außen hin mustergült­ig als Kämpfer für die Schwachen. Gleichzeit­ig möchten 40 Prozent der Deutschen (eher) nicht, dass Kinder mit und ohne Lernschwäc­he gemeinsam lernen. Und mehr als zwei Drittel sagen, die Politik müsse mögliche Fördermitt­el flächendec­kend „mit der Gießkanne verteilen“. In freundlich­e Worte gepackt heißt das: „Alle Schüler sollen gleicherma­ßen von mehr Bildungsin­vestitione­n profitiere­n.“Der Wunsch ist verständli­ch – zumal, wenn man ein eigenes Kind in der Schule hat. Doch in der Aussage schwingt eben auch eine andere Überzeugun­g mit: „Das Geld soll nicht nur Benachteil­igten zukommen, sondern gefälligst auch meinem Kind.“Diese Deutung liegt nahe, denn zwei Drittel der Familien zählen zur Mittelschi­cht und würden wohl nicht von einer Sonderförd­erung profitiere­n. Die große Bildungsum­frage fällt in eine Zeit, in der die Angst vor dem Verlust der eigenen Privilegie­n in einer gut situierten Bürgerschi­cht mit Händen greifbar ist.

Doch es sind eben genau die schlecht situierten Schüler, die teure Extrastund­en, Sprachkurs­e und Stipendien brauchen. Will man die Ungleichhe­it wirklich beheben, müssen sie zumindest bei der Förderung einmal im Vorteil sein.

Angst vor dem Verlust von Privilegie­n

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