Bei der Bildung zeigen die Deutschen ihre Doppelmoral
Leitartikel Schüler aus benachteiligten Familien haben es schwerer als gut situierte. Viele Deutsche finden das unfair. Doch bei Reformen denken sie zuerst an sich
Ach, wie paradiesisch wäre es, würde man alle Vorschläge der Deutschen für ein gerechtes Bildungssystem umsetzen: Der Kindergarten wäre für alle gratis, Alleinerziehende und Eltern mit einer Vollzeitstelle bekämen als Erste einen Platz in der Kita, Schüler mit Lernproblemen würden vom Staat extra gefördert und nach der Schule bekämen Absolventen mit wenig Geld ein Stipendium für die Uni obendrauf. Diese Vision skizziert das neue Bildungsbarometer des Ifo-Instituts. Die Münchner Forscher haben Bundesbürger befragt, wo sie Probleme bei der Bildung in Deutschland sehen, und wollten speziell wissen, wie man das System gerechter machen könnte. Die Antworten aber sind in vielen Bereichen geprägt von Widersprüchlichkeit, manchmal sind sie sogar scheinheilig.
Denn auf der einen Seite wünscht sich die überwältigende Mehrheit der Befragten ein möglichst hohes Bildungsniveau für alle Kinder – doch über dessen Finanzierung streiten sie. Dabei ist uns doch allen klar, dass vor allem sozial schwache Schüler mit Geld unterstützt werden müssten.
Die Schwachstellen an Schulen sind den Deutschen bewusst. Fast die Hälfte der 4000 repräsentativ Befragten ist davon überzeugt, dass Kinder aus schlechteren sozialen Verhältnissen auch schlechtere Bildungschancen haben. Sogar 60 Prozent wissen, dass Schüler mit Migrationshintergrund benachteiligt sind und halten das für ein (sehr) ernstes Problem, unabhängig vom Bundesland. Tatsächlich hinken Jugendliche mit Wurzeln im Ausland ihren Klassenkameraden ein bis zwei Schuljahre hinterher.
Um das zu ändern, müsste man schon im Kindergarten ansetzen. Eltern aus benachteiligten Gesellschaftsgruppen melden ihren Nachwuchs seltener dort an, es fehlt die frühe Förderung. Sie können ihrem Kind keine Nachhilfe finanzieren, schicken es seltener aufs Gymnasium, selbst wenn es die Noten dafür hätte. Kommen dann noch Sprachschwierigkeiten hinzu, ist so ein Kind schnell überfordert. Gratis-Kita, Förderunterricht, Finanzhilfen für Schulen mit vielen Problemschülern: Alles, was die Befragten im Bildungsbarometer fordern, könnte die Ungleichheit verringern. Der Haken: Solche Förderprogramme kosten Milliarden. Und wenn es ums Geld geht, ist es mit den hehren Visionen vorbei.
Liest man genauer in den Bildungsreport hinein, entlarvt er seine extrem problematische Doppelmoral: Einerseits zeigt sich ein großer Teil der Bevölkerung nach außen hin mustergültig als Kämpfer für die Schwachen. Gleichzeitig möchten 40 Prozent der Deutschen (eher) nicht, dass Kinder mit und ohne Lernschwäche gemeinsam lernen. Und mehr als zwei Drittel sagen, die Politik müsse mögliche Fördermittel flächendeckend „mit der Gießkanne verteilen“. In freundliche Worte gepackt heißt das: „Alle Schüler sollen gleichermaßen von mehr Bildungsinvestitionen profitieren.“Der Wunsch ist verständlich – zumal, wenn man ein eigenes Kind in der Schule hat. Doch in der Aussage schwingt eben auch eine andere Überzeugung mit: „Das Geld soll nicht nur Benachteiligten zukommen, sondern gefälligst auch meinem Kind.“Diese Deutung liegt nahe, denn zwei Drittel der Familien zählen zur Mittelschicht und würden wohl nicht von einer Sonderförderung profitieren. Die große Bildungsumfrage fällt in eine Zeit, in der die Angst vor dem Verlust der eigenen Privilegien in einer gut situierten Bürgerschicht mit Händen greifbar ist.
Doch es sind eben genau die schlecht situierten Schüler, die teure Extrastunden, Sprachkurse und Stipendien brauchen. Will man die Ungleichheit wirklich beheben, müssen sie zumindest bei der Förderung einmal im Vorteil sein.
Angst vor dem Verlust von Privilegien