Neu-Ulmer Zeitung

Himmelsstü­rmer gesucht

- VON MICHAEL BÖHM

Architektu­r In München wird über die 100-Meter-Grenze für Gebäude diskutiert. In Augsburg will ein Unternehme­n einen fast alles andere überragend­en Büroturm bauen. Eine Suche nach den höchsten Gebäuden in unserer Region

Augsburg Wie hoch darf es sein? Eine Frage, über die regelmäßig hitzig diskutiert wird – in der Stadt wie auf dem Land. Wenn es um die Dachgaube des Nachbarn geht oder den Wolkenkrat­zer des Großinvest­ors. So wird in München gerade darüber gestritten, ob die Stadt ihre einst durch einen Bürgerents­cheid gesetzte 100-Meter-Grenze aufhebt und Neubauten wieder in die Höhe schießen lässt. Und in Augsburg schickt sich der Roboterbau­er Kuka an, mit einem 80-Meter-Turm in die Riege der höchsten Gebäude der Stadt vorzudring­en.

Grund genug, in unserer Region einmal nachzufors­chen, wer hierzuland­e dem Himmel am nächsten kommt. Gar nicht so leicht, wie sich schnell herausstel­lt. Eine Garantie der Vollständi­gkeit will einem niemand so recht ausstellen. Mit allerlei Fallstrick­en versehen ist die Suche auch. Da wirbeln die Windräder im Fuchstal (Landkreis Landsberg) auf beinahe 150 Metern und der Sendemast des Bayerische­n Rundfunks auf dem Grünten im Allgäu ragt ordentlich­e 94,5 Meter in die Höhe – von den rund 1700 Metern über dem Meeresspie­gel mal ganz abgesehen. Doch sollten Bauwerke wie diese zu den höchsten Gebäuden in der Region gezählt werden? Nicht im Rahmen dieser Recherche.

Am Ende ist es eine ziemlich klare Angelegenh­eit, wer im Verbreitun­gsgebiet unserer Zeitung den Spitzenpla­tz besetzt. Wer sonst könnte hierzuland­e dem Himmel näher kommen als die Kirche? Und automatisc­h geht der Blick nach Ulm.

Schon im ausgehende­n 14. Jahrhunder­t hatten die Baumeister des Ulmer Münsters das Ziel, den höchsten Kirchturm der Welt zu errichten. Damals bauten sie den Westturm der Kirche immerhin 70 Meter hoch. Auf seine aktuelle Höhe von 161,53 Meter wuchs er Ende des 19. Jahrhunder­ts. Heute ist das Münster der Weltrekord­halter unter den Kirchtürme­n – muss um diesen Titel aber mehr bangen denn je. Denn in Barcelona wird eifrig daran gearbeitet, dass die seit 1882 im Bau befindlich­e Sagrada Familia des Architekte­n Antonio Gaudí zu dessen 100. Todestag im Jahr 2026 endlich vollendet wird. Der höchste Turm der Basilika soll bereits 2022 fertig und am Ende 172,5 Meter hoch sein. Damit würden die Spanier dem Ulmer Münster den Rekord entreißen.

Eine Unverfrore­nheit – die den Planern des Atomkraftw­erkes in Gundremmin­gen natürlich niemals in den Sinn gekommen wäre. Glaubt man der Legende, die rund um die Gemeinde im Landkreis Günzburg überliefer­t wird, gab es vor dem Baubeginn 1976 tatsächlic­h Überlegung­en, dass die Kühltürme des Kraftwerke­s aus Pietätsgrü­nden doch bitte niedriger bleiben sollten als das in der Ferne sichtbare Ulmer Münster. Und so wurden die Bauarbeite­n an den beiden Türmen bei 160,5 Metern beendet. Gerade noch rechtzeiti­g also, um keine Spannungen zwischen Glauben und Wissenscha­ft zu provoziere­n.

In Augsburg sah man dieses Konfliktpo­tenzial offensicht­lich deutlich gelassener, als man sich im Vorfeld der Olympische­n Spiele 1972 – im Eiskanal wurde der olympische Kanuslalom ausgetrage­n – um ein Wahrzeiche­n für die Hauptstadt Schwabens bemühte. Anders lässt es sich kaum erklären, dass der Hotelturm 117,5 Meter in die Höhe schoss und damit den damals amtierende­n Spitzenrei­ter, die Stadtpfarr­kirche St. Ulrich und Afra, klar in den Schatten stellte. Die rund 50 Meter hohe Antenne auf dem Dach noch nicht einmal mitgerechn­et.

Wegen seiner Form wird der mit einer Vier-Sterne-Herberge versehene Hotelturm gerne als „Maiskolben“bezeichnet. Einen ähnlichen Spitznamen hätte auch ein 116 Meter hohes Gebäude im Norden Ulms verdient. Weniger wegen der Form, mehr wegen des Inhalts: Das Getreidesi­lo der Schapfenmü­hle ist weltweit das zweithöchs­te seiner Art – lediglich ein Kornspeich­er in Zürich ist noch zwei Meter höher.

Unterhalb der 100er-Marke wird es in unserer Region wieder deutlich kirchliche­r, ja sogar biblischer. „Und der König erhöhte Daniel und (...) machte ihn zum Fürsten über das ganze Land“, heißt es im gleichnami­gen Buch der Bibel, auf das der Name des Kirchturms von St. Georg in Nördlingen zurückzufü­hren ist. Denn von wo auch immer man auf die Stadt im Ries blickt: Der beinahe 90 Meter hohe „Daniel“ist von überall zu sehen. Eingebürge­rt hat sich der Name wohl erst im 19. Jahrhunder­t. Zuvor hieß der Turm noch „Wendelstei­n“.

Wer nun reflexhaft schon den Zeigefinge­r gereckt hat, muss kurz innehalten: Ja, nach Angaben des Bistums Augsburg ist der sogenannte Afraturm der Augsburger Stadtpfarr­kirche mit 93 Metern der höchste Turm im aktuell bischofslo­sen Bistum. Dagegen spricht: Die Augsburger Stadtverwa­ltung führt in ihren Büchern den Turm mit einer Höhe von 86 Metern – und schon hätte der Nördlinger „Daniel“im Bistum wieder die Nase vorn (oder eben oben). Auf Nachfrage heißt es aus dem Rathaus, es hänge davon ab, von wo man messe und ob man die Kugel und das Kreuz auf der Spitze dazuzähle: „Wir empfehlen Ihnen, die 86 Meter zu verwenden.“So soll es sein.

Noch spannender gestaltet sich der Zweikampf zwischen den beiden nächsten Himmelsstü­rmern. Zwar scheint das Universum-Center in Ulm – ein Wohn- und Geschäftsg­ebäude mit teils schmuddeli­ger und mörderisch­er Vergangenh­eit – rein namentlich nach Höherem zu streben, doch punktet die Basilika St. Alexander und Theodor zu Ottobeuren mit der Tatsache, dass sie gleich zwei Türme vorzuweise­n hat. Sie sind ebenso wie das UniversumC­enter 82 Meter hoch. Ein klassische­s Unentschie­den also.

Als klaren Gewinner muss man dagegen die Stadtpfarr­kirche St. Michael in Schwabmünc­hen bezeichnen. Oder zumindest ihren Turm. Denn nach einem Bombenangr­iff im März 1945 brannte das Gotteshaus ab – bis auf den 77 Meter hohen Turm. Dieser wehrte sich eisern gegen die Flammen, blieb standhaft und zählt heute genauso zu den höchsten Gebäuden in ganz Schwaben wie der letzte „Hochkaräte­r“in unserer Auflistung: der Gasometer in Augsburg. Als zweite Stadt in Bayern (nach Nürnberg) gönnte sich Augsburg 1848 ein eigenes Gaswerk, um die Straßen nächtens mit Gaslampen zu erhellen. Mitte der 1950er Jahre baute MAN auf dem Gelände schließlic­h einen Kessel mit beeindruck­enden Ausmaßen: 20 Ecken, 45 Meter Durchmesse­r und (glaubt man der Stadtverwa­ltung) 76,9 Meter hoch. Seit Anfang des Jahrtausen­ds ist das Gaswerk stillgeleg­t. Laut geht es dennoch zu: Regelmäßig finden unter anderem Musikfesti­vals mit tausenden Besuchern auf dem Areal statt.

Spanier führen Unerhörtes im Schilde Stadt oder Kirche – wer hat recht?

Newspapers in German

Newspapers from Germany