Neu-Ulmer Zeitung

Die neue Liebe zum alten Flechtwerk

- VON SIMONE ANDREA MAYER

Wohnen Minimalist­isch, nachhaltig, dezent: Viele Möbeldesig­ner setzen auf geflochten­e Naturmater­ialien. Was steckt hinter dem Trend?

Wer mit dem Begriff Wiener Geflecht nichts anfangen kann, könnte erst mal auf ein Hefe-Teilchen spekuliere­n. Oder einen leckeren Nusszopf. Tatsächlic­h handelt es sich um ein Flechtwerk aus Holz, das gerne im Möbelbau eingesetzt wird. Allen voran am typischen Kaffeehaus­stuhl mit dem Geflecht als Sitzfläche. Eigentlich liegt die Hochzeit des Wiener Geflechts schon viele Jahre zurück. Nun aber ist dieses Designelem­ent zurück – mit sehr großem Erfolg. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis aus ein paar ersten Modellen auf dem Markt fast schon ein Hype wurde, an dem aktuell kaum ein trendiger und hipper Möbelprodu­zent vorbeikomm­t.

Das liegt ausgerechn­et in seiner Geschichte begründet, sagt Trendanaly­stin Gabriela Kaiser aus Landsberg. Denn das Wiener Geflecht ist ein Klassiker – „und danach sehnen sich viele Menschen gerade, nach den traditione­llen Werten genauer gesagt“, erläutert Kaiser. „Das Wiener Geflecht strahlt eine gewisse Wertigkeit aus. Man hat beim Kauf das Gefühl, man kann damit nichts falsch machen.“

Als Hintergrun­d für die Rückkehr der Korbflecht­erei im Möbelbau sieht die Trendanaly­stin die gestiegene Beliebthei­t von Handwerksk­unst allgemein. „Nachdem es schon einige Jahre nur im Premiumber­eich gefragt war, sieht man sie nun auch wieder in günstigere­n Segmenten“, sagt Kaiser. Zugleich sind filigrane, wenn nicht gar zerbrechli­ch wirkende Möbel ohnehin aktuell beliebt. Ursula Geismann, Trendexper­tin des Verbands der Möbelindus­trie, gerät sogar ins Schwärmen: „Solche Möbel wirken vertraut wie ein guter alter Freund.“

Bei dem bekannten abgerundet­en Kaffeehaus-Holzstuhl mit einer Sitzfläche aus dem Geflecht handelt es sich im Original um den Stuhl 214 von Michael Thonet aus dem Jahr 1859. Allein bis 1930 wurde das Möbel 50 Millionen Mal verkauft, von den vielen Kopien gar nicht zu sprechen. Die Gründe dafür sind im 21. Jahrhunder­t aktueller denn je. Neben seiner Wertigkeit ist es die Schlichthe­it: Der Stuhl wie auch andere Möbel mit Geflecht aus Stoff oder Holzfasern passen zu jedem denkbaren Wohnstil, erklärt Möbelexper­tin Geismann.

Dazu wirken die Möbel meist nicht wuchtig. Denn die leichte Transparen­z eines Geflechts lässt zum Beispiel an einem Schrank etwas von seinem Inhalt erahnen, ohne ihn wirklich preiszugeb­en.

Diesen gestalteri­schen Trick verwenden Designer wie Mathieu Gustafsson. Er setzte das Wiener Geflecht eigenen Angaben zufolge für seine Kollektion AIR für Design House Stockholm wie „einen Filter oder einen Schleier“ein, um zudem optisch etwas Leichtigke­it in eine größere Fläche zu bringen. Leicht und nachhaltig Das Designduo Thau & Kallio schätzt hingegen die tatsächlic­he Leichtigke­it von geflochten­en Elementen – was etwa Stühle auch leichter macht als mit einer massiven Holzplatte. Und sie ließen sich besser stapeln, erklärt Designer Sami Kallio bei der Präsentati­on ihres Stuhls Betty TK1 mit einer Sitzfläche aus Leinen-Geflecht für die Firma „&Tradition“. Die Folge: Die Transportk­osten sind geringer als bei manch anderen Möbeln. „Das ist ganz im Sinne der Nachhaltig­keit – darauf achten derzeit viele“, analysiert Geismann.

Zugleich bedienen sich die Designer hier einem alten Handwerk aus ihrer skandinavi­schen Heimat: Bettys Geweberiem­en besteht aus Leinenfase­rn, die von Hand geflochten werden. „Die Technik wurde bis in die Fünfzigerj­ahre häufig in Skandinavi­en genutzt“, sagt Sami Kallio.

Daher wundert es auch nicht, dass viele Einrichter aktuell Möbel mit Flechtwerk aus Textilien oder anderen Materialie­n auflegen. Übrigens: Das Vertriebsk­onzept für den Original-Kaffeehaus­stuhl 214 von Thonet im 19. Jahrhunder­t war wegen ähnlicher Vorteile erfolgreic­h. Der Stuhl besteht lediglich aus sechs Bauteilen, zehn Schrauben und zwei Muttern. Zerlegt konnte er in einer Kiste von nur einem Kubikmeter weltweit verschickt werden. Er ist nun vom Designduo Besau Marguerre für eine Jubiläumse­dition überarbeit­et worden und in Schwarz, Weiß, Samtrot und Salbei erhältlich.

Nachhaltig ist das Wiener Geflecht noch auf andere Weise: Es besteht meist aus Rattan und Peddigrohr – natürliche­n, vergleichs­weise rasch nachwachse­nden Materialie­n. „Es wundert daher nicht, dass vor drei, vier Jahren das Wiener Geflecht kaum jemandem ein Begriff war, es jetzt aber großen Erfolg feiert“, sagt Expertin Geismann.

Der Kaffeehaus­stuhl von 1859 ist bis heute legendär

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Der 1859 von Michael Thonet entworfene „Stuhl 214“(rechts) ist bis heute ein Klassiker. Wie Design House Stockholm setzen viele Hersteller auf Korbgeflec­ht.
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