Wir müssen uns erinnern – immer wieder!
Leitartikel 80 Jahre nach dem Überfall auf Polen scheint der Gedanke an Krieg sehr weit weg. Doch so stabil und sicher, wie wir denken, sind unsere Demokratien keineswegs
brutal, so total auch in der Niederlage für uns Deutsche, dass er ausgelöst hat, was geschichtliche Fehler zuvor selten auslösten: Einsicht. Für uns Deutsche natürlich, die wir froh genug sein durften, nach unseren ungeheuerlichen Verbrechen überhaupt – und dann noch so schnell – wieder in die Gemeinschaft zivilisierter Völker aufgenommen zu werden. Aber auch für die Europäer, die ein Friedensprojekt starteten, das es so in der Weltgeschichte noch nie gegeben hatte: das Zusammenwachsen eines ganzen Kontinents.
So erfolgreich verlief die deutsche Resozialisierung, dass deutsche Soldaten heute keine Angst und keinen Schrecken mehr auslösen. Im Gegenteil: Man will mehr von ihnen. Kurz vor dem Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen – denn damit begann ja dieses Verhängnis namens Zweiter Weltkrieg – hat der polnische Ministerpräsident höhere deutsche Verteidigungsausgaben gefordert. Das hat vor einigen Jahren der polnische Außenminister ähnlich formuliert, als er sagte, er fürchte nicht deutsche Macht, sondern deutsche Untätigkeit. Er wollte, dass Deutschland in Europa mehr führt.
Aber kann deshalb auch die Erinnerung an deutsche (Kriegs-)Verbrechen und zugleich an stete Kriegsgefahr aufhören? Ganz gewiss nicht. Denn es gibt ja Gründe, warum etwa das Buch „Sleepwalkers“über jene Politiker, die wie Schlafwandler in den Ersten Weltkrieg torkelten, zuletzt häufig als Vergleich für die aktuelle politische Situation herangezogen wurde. Auch derzeit haben viele Menschen das Gefühl, dass Politik keine Lösungen schafft, sondern eher Probleme heraufbeschwört. Die Leichtfertigkeit ist beängstigend, mit der etwa ganze „Handelskriege“per Tweet angezettelt werden oder potenzielle politische Katastrophen wie ein harter Brexit für Machtspiele in Kauf genommen werden.
Zugleich ist besorgniserregend, wie sehr gerade in Deutschland ernsthafte Debatten über Außenund Sicherheitspolitik an Bedeutung verloren haben. Wie peinlich ist es, dass ausgerechnet ein „Vordenker“wie Donald Trump Versäumnisse der deutschen Sicherheitspolitik ansprechen muss? Sind wir uns unseres Friedens einfach zu sicher, weil wir diese Debatten eben nicht führen?
Es stimmt ja: Demokratien erklären sich höchst selten den Krieg. Aber wir erleben zumindest in Teilen der Welt einen Krieg gegen die Demokratie – ein Krieg von innen, gegen demokratische Institutionen und Prozesse. Das kann, gepaart mit autokratischen und nationalistischen Tendenzen, in vielen Hauptstädten durchaus zu einer neuen Unberechenbarkeit, zu einer neuen Kriegslust führen. Wir müssen wachsam bleiben – und wir müssen wehrhaft bleiben, wenn es um die Verteidigung eben dieser Demokratie geht. Wie lautet das Sprichwort? „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Wir erleben einen Krieg gegen die Demokratie