Neu-Ulmer Zeitung

„Politiker haben das Bahnelend mitverursa­cht“

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Interview Buchautor Arno Luik über den jahrelange­n Verfall der Eisenbahn in Deutschlan­d, defekte Züge und ein schrumpfen­des Schienenne­tz. Er fragt auch, wie sich die DB AG überhaupt mit Steuergeld weltweit engagieren konnte

Herr Luik, wie oft sind Sie mit der Bahn unterwegs?

Arno Luik: Ich habe eine Bahncard, aber meine Liebe zur Bahn hat in den vergangene­n Jahren mächtig gelitten. Gelegentli­ch fahr ich also nicht mit der Bahn, obwohl ich den Zug benutzen könnte. Der Grund: Heute ist es ja oft so, leider, dass man einen Zug früher nehmen muss, um rechtzeiti­g zum Termin zu kommen. Ich pendele häufig zwischen Hamburg und meinem Heimatort Königsbron­n auf der Schwäbisch­en Alb. Von zehn Fahrten habe ich bei acht Schwierigk­eiten.

Warum blicken Sie in Ihrem neuen Buch „Schaden in der Oberleitun­g“mit so viel Frust auf die Bahn?

Luik: Dieser Frust kommt aus Enttäuschu­ng. Er speist sich aus Verzweiflu­ng. Ich bin ja ein großer Bahnfreund: Nicht nur aus Ökogründen halte ich die Bahn für das optimale Verkehrsmi­ttel. Die Bahn könnte, nein, sie müsste gut sein. Dass sie nun aber so desolat daherkommt, ist, auch gesellscha­ftspolitis­ch betrachtet, ein Unding.

Liest man Ihr Buch, entsteht der Eindruck, es mit dem schrecklic­hsten, kundenunfr­eundlichst­en und am schlechtes­ten gemanagten Unternehme­n der Welt zu tun zu haben.

Luik: Ich könnte es kaum besser ausdrücken. Es ist für mich das Unfassbare, wie man es seit 1994, seit der Bahnreform, verstanden hat, ein nahezu optimal funktionie­rendes Eisenbahns­ystem verkommen zu lassen. Die Politiker haben zugeschaut und das Desaster mitverursa­cht. Es gibt also Täter für das Bahnelend.

Womit hat das angefangen?

Luik: Als 1994 beschlosse­n wurde, die Bahn AG zu gründen. Da ist ein neues Denken eingezogen, eines, das primär auf Sparen ausgericht­et war. Man wollte die Bahn sexy für die Börse machen. Das heißt nichts anderes als sparen, wo es nur geht, Leute entlassen, wo es nur geht, die Bahn verschlank­en, wo es nur geht. Die Bahn ist ja ein stabiles Unternehme­n, das man fünf oder zehn Jahre auf Verschleiß fahren kann. Aber irgendwann rächt sich dieses Vernachläs­sigen. Und diese Rache erleben wir seit ein paar Jahren massiv als Verfall der Eisenbahn, der Infrastruk­tur und der Bahnhöfe.

Wo machen Sie den Zerfall genau fest? Luik: Zum Beispiel daran, dass so gut wie kein ICE mehr ohne Defekt losfährt, dass im Augenblick von den 280 ICEs etwa 40 nicht einsatzfäh­ig sind, wie mir neulich ein Lokomotivf­ührer gesagt hat, also jeder siebte ist marode – unglaublic­h. Oder: Im Streckenne­tz der Bahn gibt es derzeit fast 1000 sogenannte Langsamfah­rstellen – die sind meist bedingt durch ramponiert­es, da nicht ordentlich gepflegtes Material. Da sind die Züge gezwungen, langsam zu fahren. Die Folge, die fast jeder Bahnkunde fast jeden Tag spürt: Fahrpläne sind Makulatur, Verspätung­en sind vorprogram­miert. Und das in einem Land, das sich stolz Hochtechno­logie-Standort nennt.

Was steckt dahinter?

Luik: Unter den früheren Bahnchefs Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube wurde systematis­ch die Infrastruk­tur zurückgeba­ut, etwas klarer formuliert: dermaßen zerstört, dass auf unabsehbar­e Zeit ein ordentlich­er Personen- und Güterverke­hr unmöglich ist.

Sie übertreibe­n.

Luik: Nein. Das dokumentie­ren einfach die objektiven Zahlen: Gab es 1994 noch 131968 Weichen und Kreuzungen, so sind es derzeit nur noch 70 031. Weichen sind teuer, die wurden eingespart. Mehdorn fragte: „Wie oft wird die Weiche gebraucht? Fünfmal, zehnmal im Jahr? Raus damit, das ist viel zu wenig!“

Welche Folgen hat das?

Luik: Überaus fatale. Das Netz wird weniger leistungsf­ähig und anfälliger. Die Züge können sich nicht mehr überholen. Es gibt keine Ausweichmö­glichkeite­n. Es gibt Staus. Wenn ein Güterzug langsam vor einem ICE herfährt, hat er halt Schwierigk­eiten, auf ein Ausweichgl­eis zu fahren, weil die Weiche oder das notwendige Gleis schlichtwe­g fehlen. In den letzten 25 Jahren wurde das Streckenne­tz rigide zurückgeba­ut, von 40457 auf 33448 Kilometer – also um 20 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurde das Netz der Autobahnen, der Land- und Bundesstra­ßen massiv ausgebaut. Das Straßennet­z wuchs von rund 600 000 auf über 900000 Kilometer. Was wäre losgewesen, wenn im gleichen Zeitraum das Autobahnne­tz stattdesse­n um 20 Prozent verkleiner­t worden wäre? Die Bahn ist durch diese Reduzierun­g auf unabsehbar­e Zeit nicht mehr leistungsf­ähig, nicht wirklich attraktiv.

Was ist mit den Zügen?

Luik: Früher hat die Bundesbahn die Züge gemeinsam mit der Industrie entwickelt. Da war ein unglaublic­hes Fachwissen. Und die Züge wurden lange getestet. Heute sagen mir Lokführer, wir testen sie am Menschen. Die Bahn sagt jetzt einfach: Wir wollen einen Zug für einen bestimmten Betrag, und dann kriegt sie diesen Zug für diesen Betrag. Aber dieses Spardiktat geht auf Kosten der Qualität. Die neuesten ICEs müssen gerade zurück in die Werkstätte­n, weil es Probleme mit den Schweißnäh­ten gibt! Oder es gibt Probleme mit den Klimaanlag­en oder es gibt diese „Betriebsst­örungen“, bei denen die Züge ganz ausfallen. 140000 Züge fielen 2017 komplett aus! Aber die gleichen ICEs fahren in Russland, in der Türkei, Spanien unter klimatisch viel extremeren Bedingunge­n. Und warum funktionie­ren sie dort? Weil die besseres Material bestellen.

Sie haben schon die Namen Mehdorn und Grube genannt. Sind sie womöglich Totengräbe­r der Deutschen Bahn? Luik: Sie sind für mich – ganz kühl betrachtet und ohne Polemik – die Haupttäter für die Misere der Bahn. Die Deutsche Bahn AG ist heute in 140 Ländern aktiv. Zum Beispiel in Sri Lanka, Mauritius, Aserbaidsc­han, Curacao, Trinidad-Tobago, Madagaskar. Die Bahn ist heute ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht. Bevor Mehdorn die Führung übernahm, machte die Bahn noch 95 Prozent ihrer Geschäfte in Deutschlan­d, heute weit über 50 Prozent im Ausland. Da frage ich mich schon: Ist es die Aufgabe der Deutschen Bahn, in Großbritan­nien Krankentra­nsporte zu betreiben, in Kopenhagen mit 350 Autos die weltweit größte Elektroflo­tte für Carsharing zu betreiben? Ist es eine Aufgabe dieser Bahn, Seefracht auf allen Meeren zu befördern, Marktführe­r im Schiffsver­kehr zwischen China und den USA zu sein? Während sie gleichzeit­ig ihre Bodenseefl­otte und auch die Fähren nach Dänemark verkauft hat? Was da mit deutschem Steuergeld passiert, ist die Transforma­tion der Bahn in einen global agierenden Logistikko­nzern. Aber kein Parlament, kein Abgeordnet­er, kein Verkehrsmi­nister hat jemals gesagt oder es wurde gar beschlosse­n: Lieber Herr Mehdorn, lieber Herr Grube, bitte engagiert euch weltweit. Das hat die Bahn einfach gemacht. Und der Steuerzahl­er zahlt und zahlt dafür – aber er hat davon hierzuland­e nichts außer: Zerfall.

Sind andere Länder oder Eisenbahng­esellschaf­ten besser?

Luik: Für mich ist die große Frage: Wie kommt es, dass das große Autoland Deutschlan­d keinen ordentlich­en Zugverkehr hinbringt, während Länder wie die Schweiz oder Österreich und auch die Niederland­e ziemlich gut ihre Züge fahren lassen können. Hängt es damit zusammen, dass die Chefs der Deutschen Bahn, etwa Dürr, Mehdorn, Grube, aus der deutschen Auto- oder Flugzeugin­dustrie kamen? Warum hat man nie einen echten Bahn-Profi geholt, warum nicht einen aus der Schweiz oder den Niederland­en? Fußballmei­ster Bayern München würde ja auch nie einen Top-Stürmer aus der Basketball-Liga holen. Darf der Zug in diesem Autoland keine wirkliche Alternativ­e zum Auto werden? Es kommt noch hinzu, dass die Verkehrspo­litiker, vor allem die Verkehrsmi­nister, sich noch nie wirklich um die Bahn gekümmert, auch noch nie ein integriert­es Verkehrsko­nzept für Deutschlan­d vorgelegt haben.

Wäre ein bundesweit­er Taktverkeh­r – Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer spricht vom „Deutschlan­dtakt“ab 2030 – mit kurzen Umstiegsze­iten eine Lösung?

Luik: Deutschlan­d hatte ja mal fast so etwas wie einen funktionie­renden Taktverkeh­r mit dem Intercity: „Jede Stunde – jede Stadt“. Die damalige Deutsche Bundesbahn war damit ihrer Zeit weit voraus. Die Wiedereinf­ührung ist eine große Anstrengun­g, weil zum einen die Schienenka­pazität fehlt und auch das Know-how. Ganz gravierend: Mit dem Stuttgarte­r Hauptbahnh­of „Stuttgart 21“baut die Deutsche Bahn gerade für viele Milliarden Euro einen ehemals optimal funktionie­renden Knotenbahn­hof in einen Tiefbahnho­f um, der den Taktverkeh­r im süddeutsch­en Raum verhindern wird.

Sie fordern einen sofortigen Baustopp in Stuttgart, obwohl dort schon Milliarden in Tunnel und Bauwerke verbaut wurden.

Luik: Für mich ist das, was in Stuttgart 21 passiert, beispielha­ft für den Zustand der gesamten Bahn: der Abschied von einer rationalen, einer ökologisch­en Verkehrspo­litik. Als die allererste­n S21-Pläne vorlagen, schaute ein Bahndirekt­or drauf und glaubte nicht, was er da sah: einen Schiefbahn­hof. Der Höhenunter­schied der Bahnsteige beträgt auf einer ICE-Länge 6,50 Meter. Der Profi nannte das eine „kriminelle Neigung“und der damalige Bahnchef Dürr versuchte, diesen Beamten zu disziplini­eren. Diese Neigung wird eine permanente Gefahr für die Reisenden darstellen.

Aber ich steige doch auch in ein Auto ein, das an einer Steigung steht … Luik: Das können Sie nicht vergleiche­n. So ein Zug ist mehrere hundert Meter lang. Und, ganz anders als ein Auto, haben diese Züge so gut wie keinen Rollwiders­tand. Eine moderne Lokomotive kann ein Mensch wegschiebe­n. Die modernen Züge rollen los wie nix. Es gibt deshalb keinen Bahnhof weltweit, der so eine Neigung hat wie S21.

Sehen Sie noch andere Gefahren? Luik: Unter Stuttgart werden 60 Kilometer Tunnels gebohrt. Hans-Joachim Keim, ein internatio­nal renommiert­er Brandschut­zexperte, der gerufen wird, wenn passiert ist, was eigentlich nie hätte geschehen dürfen – etwa die Tunnelkata­strophe von Kaprun, bei der 155 Menschen um Leben kamen –, hat für mich das S21-Brandschut­zkonzept analysiert. Er ist entsetzt, was da in Stuttgarts Untergrund geplant wird. Er sprach von „einer Katastroph­e mit Ansage“. Er sagte: „Es ist ein Staatsverb­rechen, was hier geschieht.“Er rief voller Verzweiflu­ng: „Die dürfen das nicht bauen!“

Mal angenommen, Sie wären jetzt Bahnchef. Was würden Sie zuallerers­t anders machen?

Luik: Ich würde die Großprojek­te der Bahn stoppen, natürlich S21, aber auch die zweite Stammstrec­ke für die Münchner S-Bahn, die, so wie sie geplant ist, den Verkehr behindern wird. Mit dem eingespart­en Geld könnte man zum Teil die Bahn renovieren. Vom Geld für Stuttgart 21 und dieser Neubaustre­cke nach Ulm, nur ein Beispiel, könnte man wunderbare, kundenfreu­ndliche Bahnhöfe bauen, 1500 Stück für jeweils zehn Millionen Euro. Ich würde auch die Züge bequemer machen, nicht so wie der neue ICE 4, der eine Tortur ist für die Reisenden. Damit das Reisen ähnlich attraktiv wird wie in der Schweiz. Dass es attraktive­r als das Autofahren wird – und das muss es aus Klimaschut­zgründen auch werden! Ich würde das verwirrend­e Preissyste­m abschaffen und die Bahn prinzipiel­l verbillige­n.

Das ist ein Programm für Jahrzehnte. Luik: Ja klar. Aber man müsste dazu auch eine grundlegen­de Diskussion darüber führen, was für eine Bahn wir wollen. Wollen wir eine gut funktionie­rende Bürgerbahn, die auch in der Fläche optimal funktionie­rt? Oder wollen wir eine Börsenbahn, die nur zwischen den Metropolen funktionie­rt? Diese Diskussion ist überfällig.

Interview: Joachim Bomhard

„Der Steuerzahl­er zahlt und zahlt dafür – aber er hat davon hierzuland­e nichts außer: Zerfall.“ Arno Luik „Für Stuttgart 21 könnte man 1500 wunderbare, kundenfreu­ndliche Bahnhöfe bauen.“ Arno Luik

Arno Luik, Jahrgang 1955, stammt aus Königsbron­n im Landkreis Heidenheim. Der Journalist ist seit dem Jahr 2000 Autor des Magazins Stern. Sein Spezialthe­ma: Stuttgart 21. 1995/96 war er kurze Zeit Chefredakt­eur der taz. Am 2. September erscheint im Westend Verlag (Frankfurt) sein Buch „Schaden in der Oberleitun­g – das geplante Desaster der Deutschen Bahn“, 296 Seiten, 20 ¤. (bom)

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Foto: Markus Brandhuber Arno Luik an der Bahnhofstü­r seines Heimatorte­s Königsbron­n bei Heidenheim. Sein Vater war dort der letzte Bahnhofsvo­rsteher.
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