Wenn die Nerven wirklich blank liegen
Serie (4) Was für viele eine Redensart ist, trifft auf Multiple-Sklerose-Patienten zu. Rolf Jung von der Amsel-Kontaktgruppe Ulm will Erkrankte aus der Isolation holen
Ulm Es begann damit, dass er Doppelbilder sah, erinnert sich Rolf Jung: Schaute er etwas an, sah er es zweifach, übereinander stehend. Die Doppelbilder verschwanden eines Tages wieder, andere Symptome traten bei dem jungen Mann auf, der damals nach einem Betriebswirtschaftsstudium auf der Karriereleiter nach oben strebte. Als er 33 war, bekam Rolf Jung die Diagnose: Multiple Sklerose. Die Selbstheilungskräfte seines Körpers hatten ausgereicht, die Entzündung des Sehnervs zu heilen, mit der die neurologische Autoimmunerkrankung bei ihm begonnen hatte, wohl schon Jahre vor der Diagnose. An den Moment, als er von seiner Multiple Sklerose-Erkrankung erfuhr, erinnert sich Rolf Jung genau: „Sie fallen in ein Riesenloch.“
Heute ist Rolf Jung Leiter der Amsel-Kontaktgruppe Ulm für Multiple Sklerose-Erkrankte und ihre Angehörigen und Freunde. 1987 wurde sie gegründet, das Akronym Amsel steht für Aktion Multiple-Sklerose-Erkrankter Landesverband Baden-Württemberg. Warum es innerhalb der Selbsthilfegruppe wenige Jüngere gibt, obwohl man an MS in jüngeren wie in späteren Jahren erkranken kann, versteht Rolf Jung gut: „Man muss nach der Diagnose erst einmal für sich selbst zur Ruhe kommen“, erinnert er sich. Sich an eine Selbsthilfegruppe zu wenden, sei anfangs unglaublich schwierig: „Da sieht man die unterschiedlichen Stufen des KrankheitsViele sitzen im Rollstuhl. Man sieht also praktisch den weiteren Lebensweg“, sagt er. Wobei nicht jeder MS-Kranke irgendwann automatisch im Rollstuhl sitzen muss, weil es heute – anders als zur Zeit seiner Diagnose – andere und bessere Therapiemöglichkeiten gibt.
Doch jeder Schub, erläutert Jung, hinterlässt einen Bodensatz, der nicht mehr zurückgeht. Wenn Rolf Jung die Redensart „Die Nerven liegen blank“verwendet, bekommt der Satz bei ihm eine andere Bedeutung: Multiple Sklerose greift die Markscheiden der Nerven an, die die isolierende äußere Schicht der Nervenfasern sind. Und weil das praktisch überall im Zentralnervensystem passieren kann, ist Multiple Sklerose eine Erkrankung mit unzähligen Gesichtern. „Allen Erkrankten sind aber irgendwann schnelle Ermüdungserscheinungen gemein“, erklärt der Ulmer.
Wer Rolf Jung gegenübersitzt, blickt in strahlende, freundliche Augen: Der 56-Jährige ist sich bewusst, wie viel Positives er in seinem Leben hat. Auch wenn seine Beine ihn nur innerhalb der Wohnung ohne Walking Sticks tragen, und auch wenn er schneller ermüdet als früher – körperlich wie in der Konzentration. Jung arbeitet halbtags im staatlichen Ulmer Hochbauamt, er führt eine glückliche Ehe, er kann Auto fahren und sich damit viel Selbstständigkeit erhalten. Gerade eben kamen er und seine Frau aus dem Urlaub zurück, den sie in Südtirol mit der Selbsthilfegruppe in einem barrierefreien Hotel verbrachten. Früher fuhren er und seine Frau gerne mit dem Motorrad nach Südverlaufs. tirol. Das ist nicht mehr möglich, die Gruppe reiste mit dem Bus an.
Rolf Jung lässt sich seit 18 Jahren von einem Physiotherapeuten behandeln. Deshalb kann er seinen Oberkörper nahezu uneingeschränkt bewegen. Und Jung kann gehen, wenn auch langsamer als früher, und längere Wegstrecken sind nicht mehr möglich. Selbst eine kleine Wanderung bedeutet für ihn, der Übungsleiter beim Behindertensport der TSG Söflingen ist, sich auch einmal helfen lassen zu müssen oder sich von einem Elektro-Rollstuhl ziehen zu lassen, wenn es gerade steiler bergauf geht. „Aber Bewegung ist bei Multipler Sklerose extrem wichtig“, erklärt Jung. „Je mehr Bewegung, desto besser, weil sie den Teufelskreis durchbricht aus Schonung und daraus resultierender weiterer Einschränkung.“
Deshalb ist es für Rolf Jung ein Ziel, junge Erkrankte aus ihrer Isolation zu holen. Sie verbringen zu viel Zeit sitzend am Computer, weiß er – was für den Krankheitsverlauf nicht gut ist.
Aufgrund der hohen Zahl von Betroffenen sei die Pharmaindustrie an der Entwicklung von Medikamenten, die den Verlauf der Erkrankung günstig beeinflussen, sehr interessiert: Etwa 240000 Menschen in Deutschland sind an Multipler Sklerose erkrankt – weltweit wird die Zahl der Patienten auf 2,5 Millionen geschätzt.
„Je mehr Bewegung, desto besser, weil sie den Teufelskreis durchbricht aus Schonung und daraus resultierender weiterer Einschränkung.“ Rolf Jung
Kontakt Interessierte können unter Telefon 0157/54153072 Kontakt und auf der Internetseite amsel.de/ulm mehr erfahren. Das Selbsthilfebüro Korn ist unter Telefon 0731/88034410 und E-Mail kontakt@selbsthilfebuerokorn.de erreichbar.