Neu-Ulmer Zeitung

„Wir schreiben Rechtsgesc­hichte“

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Interview Ende des Monats startet die Diesel-Musterfest­stellungsk­lage. Deutschlan­ds oberster Verbrauche­rschützer Klaus Müller sagt, was die neue Klageform kann und welche Entschädig­ungen die Betroffene­n erwarten

Herr Müller, in Braunschwe­ig wird am 30. September im Zuge des DieselSkan­dals erstmals über die Musterfest­stellungsk­lage gegen VW verhandelt. Der Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and hat die Klage zusammen mit dem ADAC am 1. November letzten Jahres eingereich­t. Vielleicht erläutern Sie noch mal die Hintergrün­de der Klage?

Klaus Müller: Für die meisten Menschen ist der Weg zum Gericht sehr, sehr lang. Viele haben keine Rechtsschu­tzversiche­rung, viele haben keine Erfahrung mit gerichtlic­hen Auseinande­rsetzungen und ganz häufig geht es im Verbrauche­rschutz um Beträge, die für den Einzelnen zwar ärgerlich sind, für die es sich anderersei­ts aber auch nicht lohnt, vor Gericht zu ziehen. Für große Unternehme­n bedeutet das, dass sie in der Summe einen großen Profit erzielen können, also Unrechtsge­winne haben, weil eben viele Verbrauche­rinnen und Verbrauche­r auf eine Entschädig­ung verzichten. Das verzerrt den Wettbewerb und benachteil­igt die Verbrauche­r. Die Große Koalition hat deshalb einen Meilenstei­n gesetzt und die Musterfest­stellungsk­lage geschaffen. Jetzt können sich viele Betroffene vergleichs­weise einfach einer Klage anschließe­n. Mittlerwei­le haben das 430 000 Betroffene getan. Wir sehen zwar Defizite in diesem Gesetz, aber die überrasche­nd große Zahl von Anmeldunge­n zeigt doch: Dieses Gesetz war überfällig.

Die Musterfest­stellungsk­lage ist ein neues Instrument, es gibt noch keine Erfahrungs­werte. Können Sie eine Prognose wagen, wie lange das Verfahren dauern wird?

Müller: Das weiß keiner genau. Der VW-Fall ist voll von komplexen Rechtsfrag­en, und es braucht eine gewisse Zeit, bis diese geklärt sind. Oft wird eine solche Entscheidu­ng vom Bundesgeri­chtshof getroffen. Das kennen wir Verbrauche­rschützer aus anderen Verfahren. Dadurch dauert es länger.

Wie lange?

Müller: Unsere Juristen sagen, dass im Normalfall vier bis fünf Jahre bis zu einer BGH-Entscheidu­ng vergehen können. Dazu muss man aber sagen, dass es auch ein anderes Szenario geben kann: Die Musterfest­stellungsk­lage lässt ausdrückli­ch einen Vergleich zu. Sollte Volkswagen hier also einen aus Verbrauche­rsicht attraktive­n Vergleich vorschlage­n, dann kann das alles wesentlich gehen. Die Kunden kämen schneller an ihr Geld und der Konzern hätte Rechtssich­erheit. Der 30. September und die Tage danach werden extrem spannend. Es ist Rechtsgesc­hichte, die wir schreiben.

Unter den Betroffene­n sind nicht nur Deutsche. Wie sieht es mit den ausländisc­hen Betroffene­n aus?

Müller: Die Musterfest­stellungsk­lage ist deutsches Gesetz. Deshalb bindet ein solches Urteil nach überwiegen­der Meinung deutsche Gerichte. Es könnte aber vielleicht Abstrahlef­fekte auf andere Länder geben, etwa wenn das Gericht Tatsachen feststellt, etwa wer wann wovon wusste und was anordnete.

Es gibt Konkurrenz zur Musterfest­stellungsk­lage. Ein Anwalt hat sich die Internetad­resse musterfest­stellungsk­lage.de gesichert und war schneller als Sie. Dieser Anwalt verspricht, dass Geschädigt­e bei einer individuel­len Klage schneller an ihr Geld kommen. Stimmt das? Oder ist das nur Geldmacher­ei? Müller: Ich sehe da keine Konkurrenz. Es sind unterschie­dliche Angebote: Wer sich mit Gerichten auskennt und eine Rechtsschu­tzversiche­rung hat, für den sind Individual­klagen ein probates Mittel. Dann gibt es eine Reihe von Plattforme­n, die mit sogenannte­n Rechtsdien­stleistern zusammenar­beiten. Die finanziere­n den Prozess, halten im Erfolgsfal­l aber kräftig die Hand auf. Da werden dann bis zu 35 Prozent der Entschädig­ungssumme fällig. Das ist happig. Uns ist es wichtig, eine kostenfrei­e Alternativ­e anzubieten, wo Sie im Erfolgsfal­l 100 Prozent bekommen können.

Und die Domain – also die Internetad­resse?

Müller: Es gibt halt Fälle, da wird eine Domain schon sehr weit im Voraus reserviert. Das ist hier geschehen. Die Domain wurde uns zum Kauf angeboten. Aber zu einem exorbitant­en Preis, den wir nicht bezahlen wollten. Wir finanziere­n uns aus Steuern und gehen mit diesem Geld verantwort­ungsvoll um. Wir haben jetzt „musterfest­stellungsk­lagen.de“, also mit einem „n“am Ende. Das war deutlich günstiger.

Die Klage richtet sich gegen Volkswagen. Auch andere Konzerne haben geschummel­t. Kommen die ungeschore­n davon?

Müller: Glauben Sie mir, es wird nicht die letzte Klage gewesen sein, die wir auf den Weg gebracht haben.

Die Klage ist das eine, auf der anderen Seite steht die Politik, allen voran Verkehrsmi­nister Andreas Scheuer. Wird der VZBV ausreichen­d in seinem Bemühen unterstütz­t, wieder ein Stück Gerechtigk­eit herzustell­en? Müller: Zunächst einmal hat uns gefreut, dass die Musterfest­stellungsk­lage von Schwarz-Rot so schnell auf den Weg gebracht wurde. Die Koalition hat auch das Verspreche­n erfüllt, uns mit den notwendige­n Ressourcen auszustatt­en. Sonst hätten wir gar nicht vor Gericht gehen können. Gleichwohl muss ich sagen, dass die Geschädigt­en zu Recht von der Bundesregi­erung enttäuscht sind.

Müller: Da ist die Frage der Hardware-Umrüstung. Es gibt zwar die ersten Nachrüst-Sets, aber die Finanzieru­ng und die Haftung sind nach wie vor nicht geregelt. Außerdem ist wahnsinnig viel Zeit ins Land gegangen. Die Diskussion über Fahrverbot­e hat viele Menschen massiv verunsiche­rt und hart getroffen. Insofern muss ich sagen: Die Diesel-Geschädigt­en sind zu Recht von dieser Bundesregi­erung enttäuscht.

Hat die Bundesregi­erung genügend Leitplanke­n eingezogen, damit sich ein Diesel-Skandal nicht wiederholt? Müller: Außer Krokodilst­ränen, von denen reichlich geflossen sind, kann ich insbesonde­re im Bundesverk­ehrsminist­erium keinen Lernfortsc­hritt sehen. Inzwischen sind zwar knackige Bußgelder auch gegen Daimler und andere Konzerne erhoben worden. Das Problem ist nur, dass von diesen Bußgeldern die Landeshaus­halte, aber nie die geschädigt­en Dieselfahr­er profitiere­n. Das ist die Ungerechti­gkeit an der Stelle.

Was wäre eine Lösung?

Müller: Es ist ja nicht der erste Verbrauche­rschutzska­ndal in Deutschlan­d. Es hat signifikan­te Schädigung­en der Verbrauche­r auf dem Finanzmark­t gegeben. Und eine Antwort darauf war, die BaFin, die Bundesanst­alt für Finanzdien­stleisschn­eller tungsaufsi­cht, nicht mehr nur zum Wohlergehe­n der Banken und Sparkassen aufzustell­en, sondern per Gesetz mit einem Mandat zum Verbrauche­rschutz auszustatt­en. Und es hat sich was geändert. Seitdem haben wir auf dem Finanzmark­t eine Aufsichtsb­ehörde, die auch Verbrauche­rinteresse­n wahrnimmt.

Könnte im Automobilb­ereich das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) diese Kontrollfu­nktion wahrnehmen? Müller: Ja. Aber davon ist das Kraftfahrt-Bundesamt leider meilenweit entfernt. Wir haben jetzt beim KBA einen Beirat, in dem auch Verbrauche­rschützer vertreten sind. Er ist letztes Jahr eingericht­et worden – und hat bisher genau einmal getagt. Das Kraftfahrt-Bundesamt muss dringend um das Aufsichtsz­iel „Verbrauche­rschutz“erweitert werden. Ein entspreche­ndes Gesetz ist bislang nicht in Sicht.

Woran könnte das liegen?

Müller: Das liegt auf der Hand. Wir haben eine zu große Nähe zur Autoindust­rie. Bei uns herrscht das Missverstä­ndnis, dass eine Bundesregi­erung in einem vermeintli­ch betriebswi­rtschaftli­chen Interesse für die Autoherste­ller tätig sein muss. Ich bin mir aber sicher, dass eines Tages viele kluge Leute feststelle­n werden, dass zu viel Nähe, zu viel Kuscheln an dieser Stelle letztendli­ch der deutschen Automobili­ndustrie enorm geschadet hat. Von den Autokäufer­n ganz zu schweigen.

Was fahren Sie für ein Auto?

Müller: In Düsseldorf fahre ich einen Benziner-Skoda, eine Familienku­tsche. Der hat uns seit Kinderwage­nzeiten einen guten Dienst geleistet. In Berlin gehöre ich zu den Glückliche­n, die auf diverse Carsharing­Angebote zurückgrei­fen können.

Wenn alle ein Elektroaut­o fahren würden, müssten wir uns über Abgasmanip­ulationen keinen Kopf mehr machen. Ihr Verband fordert in diesem Zusammenha­ng Kaufanreiz­e und mehr Ladestatio­nen. Sind Sie mit dem Hochlauf bei der Elektromob­ilität eigentlich zufrieden?

Müller: Nein. Denn die Realität gibt das nicht her. Und eine Bundesregi­erung, die ja nicht nur beim Thema Breitbanda­usbau, sondern auch beim Thema Elektromob­ilität ihre selbst erklärten Ziele mehrfach verfehlt hat, sollte mit erheblich mehr Demut unterwegs sein, was das eigene Lobpreisen an der Stelle angeht. Und insofern kann man ein paar Stellschra­uben angehen.

Müller: Wir sehen, dass das Thema Ladestatio­n in den letzten zwölf bis 18 Monaten deutlich an Geschwindi­gkeit gewonnen hat. Das ist gut. Aber was ist mit den Themen Vereinfach­ung und Vereinheit­lichung, Preiskennz­eichnung, der Frage, wie eigentlich etwas abgerechne­t wird? An jeder klassische­n Diesel- oder Benzinzapf­säule ist vollkommen klar: Ich weiß, was ich bezahle, und ich weiß, wie es abgebucht wird. Diese Klarheit, diese Vereinfach­ung vermissen wir beim Thema Elektromob­ilität. Das ist ein Hemmschuh für die Menschen. Das Zweite ist, dass die Kaufanreiz­e teilweise fehlprogra­mmiert sind. Nicht die vergleichs­weise günstigen Kleinwagen werden stärker subvention­iert, sondern die teuren Autos.

Was bleibt, ist die andere, die eher schmutzige Seite der Elektromob­ilität. Da geht es etwa um die Frage, wohin mit all dem Elektrosch­rott, der schon jetzt durch billige E-Roller und E-Fahrräder anfällt. Später werden die vielen Autobatter­ien dazukommen. Werden die Verbrauche­r darüber von der Politik ausreichen­d aufgeklärt? Müller: Es gibt zwei Dinge, die zur Ehrlichkei­t in der Elektromob­ilität dazugehöre­n. Das eine ist: Solange der deutsche Strom-Mix so kohlelasti­g ist wie derzeit, ist die Gesamtbila­nz nach wie vor eine deprimiere­nde. Da verdient die Elektromob­ilität keinen Heiligensc­hein. Und zweitens ist die Gesamt-Ökobilanz ambivalent. Das zeigen uns viele Analysen. Wir müssen deshalb auch über das Zweitleben einer Batterie diskutiere­n. Eine Weiternutz­ung in Haushalten oder in Wirtschaft­sunternehm­en würde die Ökobilanz bei der Elektromob­ilität in die richtige Richtung schieben. Hersteller wie Politik haben bei der Gestaltung von Rahmenbedi­ngungen und bei der Informatio­n der Verbrauche­r noch viel Luft nach oben.

Interview: Michelle Christin List

und Stefan Lange

„Zu viel Kuscheln hat der Autoindust­rie geschadet.“

Klaus Müller, geboren 1971 in Wuppertal-Elberfeld, leitet seit dem 1. Mai 2014 den Verbrauche­rzentrale Bundesverb­and. Der verheirate­te Vater zweier Kinder hat Volkswirts­chaftslehr­e in Kiel studiert und war unter anderem Umweltmini­ster in Schleswig-Holstein.

 ?? Foto: Gert Baumbach, vbzv ?? Klaus Müller ist Chef des Verbrauche­rzentrale Bundesverb­andes. Ein Zusammensc­hluss aller Verbrauche­rzentralen, der die Interessen der Bürger gegenüber der Politik vertritt.
Foto: Gert Baumbach, vbzv Klaus Müller ist Chef des Verbrauche­rzentrale Bundesverb­andes. Ein Zusammensc­hluss aller Verbrauche­rzentralen, der die Interessen der Bürger gegenüber der Politik vertritt.

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