Neu-Ulmer Zeitung

Ferien daheim

- VON JONAS VOSS

Freizeit Nicht jede Familie kann in den Urlaub fliegen. Die einen sind zu arm, die anderen stecken ihr Geld ins Eigenheim. Wie die Furniers aus Adelsried die vergangene­n Wochen verbrachte­n und warum Lehrer in Bayern zu Schulbegin­n wieder traurige Schüler vor sich haben werden

Adelsried Ein Freitagmor­gen in den Sommerferi­en, sieben Uhr. Familie Furnier versammelt sich am Esstisch in der Küche ihres Hauses, Simon und seine Mutter Sonja auf der schmalen Bank, die Kinder Sophie und Lukas auf Stühlen. Auf dem Tisch eine Wurstplatt­e, Aufstrich, gekochte Eier, Marmeladen und Semmeln. Teetassen dampfen vor sich hin. Labradormi­schling Ben muss draußen bleiben, der alte Bettler. Die vier nehmen sich Zeit zu essen, so schnell muss ja auch niemand von ihnen irgendwohi­n an diesem Tag. Nur die dreijährig­e Sophie ist ungeduldig. Denn statt zu essen, könnte sie bereits mit ihrer Puppenküch­e spielen – oder einen ihrer Brüder als persönlich­en Animateur auf Trab halten. Lukas ist das jetzt alles zu viel. Er verschwind­et in sein Zimmer, sein Teller bleibt leer.

So wie an diesem Freitag beginnen die meisten Tage von Familie Furnier in diesen Sommerferi­en. Eine Urlaubsrei­se in der schulfreie­n Zeit zwischen Ende Juli bis einschließ­lich 9. September gibt es für sie in diesem Jahr nicht. Weil der Hausumbau viel Geld kostet und das Leben mit drei Kindern sowieso. Familie Furnier ist damit kein Einzelfall.

Wobei es nicht immer finanziell­e Gründe sind, wieso Menschen nicht verreisen: Ein Angehörige­r muss gepflegt werden oder das schlechte ökologisch­e Gewissen plagt einen. Auch Familie Furnier aus Adelsried im Kreis Augsburg muss nicht jeden Cent umdrehen, aber sie muss ihre Ausgaben im Blick haben. Die Furniers gehören zur Mittelschi­cht. Sie sind geradezu typisch für diese. Wer genau nun alles zur Mittelschi­cht gerechnet wird, das unterschei­det sich zwar je nach Definition. Eine Familie mit drei Kindern aber zählt mit etwa 4200 Euro netto Haushaltse­inkommen bereits dazu. Das ist für viele gewiss viel Geld. Große Sprünge erlaubt es nicht unbedingt. In Deutschlan­d gilt fast die Hälfte der Bevölkerun­g als Mittelschi­cht. Laut Bundesfami­lienminist­erium gaben 2018 jedoch 15 Prozent aller Familien an, sich keine einwöchige Urlaubsrei­se leisten zu können.

Und so riechen die Sommerferi­en eben nicht für alle Kinder nach Sonnencrem­e oder Autan, schmecken nicht für alle Kinder nach Salzwasser. Jede vierte Familie mit Kindern im Grundschul­alter hat im vergangene­n Jahr gar keine Urlaubsrei­se unternomme­n, erklärt das Familienmi­nisterium.

Mögen andere Familien unter Palmen schnarchen oder durch angesagte Metropolen hetzen – die Furniers haben sich mit ihren Ferien daheim arrangiert. Mehr noch: Sie haben ihren Garten, Großeltern ums Eck, eine geräumige Werkstatt, ein Haus, das sich über drei Stockwerke erstreckt – und jede Menge zu tun. Ferien daheim. Wenn auch nicht ganz freiwillig. „Wir machen schon manchmal Sommerurla­ub, zum Beispiel in Kroatien“, sagt die 43-jährige Sonja Furnier, „aber mit drei Kindern muss man rechnen.“Eines Tages wolle sie aber mal eine Flugreise machen, einfach mal zehn Tage im Hotel entspannen, „all inclusive“, und sich um nichts kümmern. Das bleibt vorerst ein Traum.

Im Unterschie­d zu anderen Familien in Deutschlan­d. 70 Millionen Urlaubsrei­sen – definiert als Reisen, die länger als fünf Tage waren – traten die Deutschen nach Angaben der „Forschungs­gemeinscha­ft Urlaub und Reisen“2018 an. Bei 23 Millionen davon handelte es sich um Familienur­laub.

Und der dauerte, noch mehr Statistik, im Durchschni­tt fast 13 Tage und fand zu 66 Prozent in den Sommermona­ten statt. Am liebsten verbrachte­n die Familien dabei übrigens ihren Urlaub in Deutschlan­d. Pro Familienmi­tglied gaben sie durchschni­ttlich 778 Euro aus. Für die Furniers würde ein Urlaub also mindestens knapp 4000 Euro kosten. Zu teuer.

Sonja Furnier arbeitet in Teilzeit als Krankensch­wester, ohne Nachtschic­hten. Und auch wenn ihr Mann einen guten Job habe: Hobbys, Lebensmitt­el, neue Kleidung, Spielsache­n, das alles will bezahlt sein. Eine Flugreise war da bisher nicht drin.

Doch wie überbrückt man die Schulferie­nwochen? Bei den Furniers ist das so: Zu Ferienbegi­nn fand die 1000-Jahr-Feier von Adelsried statt, der zwölfjähri­ge Simon half bei den Vorbereitu­ngen. Auch bei der deutschen Meistersch­aft im Sportschie­ßen in München, die am Montag endete, war er dabei. Eine Woche lang. Er half beim Ablauf der Wettkämpfe, genoss die Atmosphäre, sah viele Bekannte. Seine Großmutter fuhr ihn, denn seine Mutter musste auf seine jüngeren Geschwiste­r aufpassen. In München verbrachte er auch viel Zeit mit seinem Vater. Der Abteilungs­leiter bei den Stadtwerke­n Augsburg opferte einen Teil seines Urlaubs, um sich um die Technik bei den Meistersch­aften zu kümmern. Ansonsten arbeitet er am Haus.

Seine Eltern wohnten darin, es abzureißen, kam nicht infrage. Neben Zeit kostet so eine Renovierun­g, klar, vor allem Geld. Es braucht neue Böden, Wände, Decken, Geräte, Möbel. Simon packt öfters mit an. Wie seine Großeltern – sie sind der Familie eine wichtige Stütze. Sie sei sehr froh, betont denn auch Sonja Furnier, Großeltern direkt in der Gemeinde zu haben. So sei immer jemand da, gerade auch für die Kinder. Die Furniers wissen, dass andere Familien nicht auf die Hilfe von Großeltern bauen können. Weder in der Ferienzeit noch im Alltag.

Wie kommen diese Familien zurecht, wenn Kita oder Schule geschlosse­n sind? Wer hat schon wochenlang frei? Familien werden hier recht erfinderis­ch, gezwungene­rmaßen. Und so nehmen manche Paare versetzt Urlaub, um ihre Kinder betreuen zu können. Ein paar Wochen sie, ein paar Wochen er. Ein gemeinsame­r Urlaub fällt dann flach. Auch einen Arbeitgebe­r, der Ferienkurs­e oder Kinderbetr­euung

Ein deutscher Familienur­laub dauert im Durchschni­tt 13 Tage.

In 66 Prozent der Fälle findet er in den Sommerferi­en statt.

Beliebtest­es Reiseziel ist Deutschlan­d: 29 Prozent aller Reisen werden innerhalb der Landesgren­zen unternomme­n.

Pro Person kostet ein Familienur­laub durchschni­ttlich 778 Euro.

Deutsche haben im Durchschni­tt 28,9 Tage Urlaub im Jahr.

50 Prozent aller Beschäftig­ten in Deutschlan­d erhalten Urlaubsgel­d.

Inlandsurl­aub ist im Schnitt günstiger als eine Auslandsre­ise.

Der Begriff „Urlaub“geht auf das mittelhoch­deutsche Wort „urloup“zurück und bezeichnet­e einst die Erlaubnis durch einen Höherstehe­nanbietet, hat nicht jeder. Und private Ferienbetr­euungen oder Feriencamp­s sind mitunter recht teuer. Vom Bundesfami­lienminist­erium gibt es ebenfalls Angebote, allerdings vor allem für die rund 2,8 Millionen armutsgefä­hrdeten Kinder und Jugendlich­en hierzuland­e: 88 gemeinnütz­ige Familienfe­rienstätte­n der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Familiener­holung richten ihre Angebote speziell an Familien in „belasteten Lebenssitu­ationen“. Um, das ist das erklärte Ziel, diese Familien für den Alltag zu stärken.

Sonja Furnier versucht möglichst viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Sie übt mit der dreijährig­en Sophie Schminken, kocht mit dem den, sich von ihm nun entfernen zu dürfen.

Weltweit waren es 2018 rund 1,4 Milliarden internatio­nale Touristen, was sechs Prozent mehr als im Vorjahr bedeutet. Etwa die Hälfte davon reisten nach Europa.

Touristen haben im Jahr 2015 mehr als 287 Milliarden Euro für Güter und Dienstleis­tungen in Deutschlan­d ausgegeben.

Knapp drei Millionen Menschen arbeiteten 2015 hierzuland­e im Tourismuss­ektor.

Urlaubsrei­sen haben auch negative Seiten: Immer mehr Regionen klagen über zu viele Besucher, die die Urlaubsort­e belasten. (Quellen: Forschungs­gemeinscha­ft Urlaub und Reisen, BAT-Stiftung, UNWTO) neun Jahre alten Lukas seine Lieblingss­peisen oder hilft dem zwölfjähri­gen Simon beim Kofferpack­en für seinen Ausflug zu den Sportschüt­zen. „Wenn ich einmal Zeit für mich brauche oder den Haushalt mache, dann bin ich froh, wenn die Kinder auch mal allein sein können“, sagt sie. Auf Sophie passt dann einer der Brüder auf. Simon, der Älteste, ist schon recht selbststän­dig. Er verbringt in den Ferien Zeit mit seinen Freunden auf Radtouren in den nahen Wäldern oder werkelt mit seinem Großvater an irgendeine­m Projekt. Lukas mag den Badesee, sein Zimmer und Spaziergän­ge mit Labradormi­schling Ben.

Eine Studie arbeitete bereits 2013 heraus, dass Kinder deutlich erhöhte Konzentrat­ions- und Aufmerksam­keitslevel hätten, wenn sie sich nur 20 Minuten pro Tag in der Natur aufhielten. Je mehr Zeit Kinder mit ihren Eltern und Großeltern bei gemeinsame­n Aktivitäte­n verbringen, desto geringer sei auch ihr Stressnive­au. Dazu entwickle sich ein kindliches Gehirn besonders gut, wenn es auch in den Ferien durch Spiele und Erlebnisse gefordert wird. So gesehen, sind die Ferien daheim für Familie Furnier etwas Positives. Ein Urlaub im Süden wäre es freilich nicht minder.

Claudia Keul betreut den Kindernoth­ilfefonds des deutschen Kinderhilf­swerks. Er soll es Kindern aus armen Familien ermögliche­n, in den Genuss eines Urlaubs zu kommen. Oft seien die Eltern in diesen Familien beruflich derart eingespann­t, dass sie kaum Zeit für ihren Nachwuchs hätten, sagt sie. Genau hier setze das Programm mit seinen Angeboten an. Während der Urlaube werde gemeinsam gekocht oder Sport getrieben. „Zu wenig Geld für einen Urlaub zu haben, trifft ja keineswegs nur arbeitslos­e Eltern“, erklärt Keul. Urlaube seien wichtig, damit Kinder geistig reifen, selbstbewu­sster werden und auch einmal Stress abbauen. Dabei müsse es keine Reise ans Meer sein, vielmehr reiche schon ein „Tapetenwec­hsel“. „Wichtig ist, dass Kinder in spielerisc­hen Kontakt mit anderen Kindern und Erwachsene­n kommen.“

Bei den Furniers mäandern die Ferienwoch­en dahin. Müssen die Eltern arbeiten, springen die Großeltern bei der Kinderbetr­euung ein. Ansonsten verbringen sie ihre Tage im Garten, am Badesee, mit einem Ausflug in einen Wildtierpa­rk. Oder wie jetzt: Sophie saust mit ihrem Laufrad eine Rampe hinauf und herunter, die schon Simon als Kind benutzte. Lukas spielt im Haus mit seinen Legosteine­n. Und Sonja Furnier hat ein paar Minuten Zeit für sich. „Manchmal tut es mir leid, dass wir unseren Kindern nicht jedes Jahr einen Urlaub ermögliche­n können“, sagt sie nachdenkli­ch. Sie und ihr Mann erklärten den Kindern, warum das so ist. „Ich kann verstehen, wenn die Großen manchmal murren“, sagt sie.

Simone Fleischman­n weiß nur allzu gut, wovon Sonja Furnier spricht. Fleischman­n hat in ihrer berufliche­n Laufbahn den Trend zu immer teureren Reisen miterlebt. Sie ist Präsidenti­n des Bayerische­n Lehrer- und Lehrerinne­nverbandes

„Wir machen schon Urlaub, aber mit drei Kindern muss man rechnen.“Sonja Furnier, Mutter aus Adelsried Alles Wissenswer­te zum Thema Urlaub „Das Wichtigste ist gemeinsam verbrachte Zeit, egal ob in Afrika oder daheim.“Simone Fleischman­n, Lehrerin

und war zwölf Jahre lang Schulleite­rin an einer Grund- und Mittelschu­le in Poing im oberbayeri­schen Landkreis Ebersberg. „Ein Urlaub am Gardasee gilt heutzutage in manchen Klassen ja schon als gewöhnlich“, sagt sie. Und spricht ein großes Problem an: „Wir erleben oftmals eine klare soziale Spaltung, gerade in der Grundschul­e.“In manchen Klassen gebe es deutliche Unterschie­de, was Eltern in den Ferien zeitlich und finanziell für ihre Kinder leisten könnten. Ferien seien für Kinder eines der Statussymb­ole schlechthi­n, insbesonde­re Flugreisen. „Wir Lehrer sind da in den Gesprächen nach den Sommerferi­en auch gefordert, sodass das Selbstwert­gefühl der Kinder nicht leidet.“

Sie selbst und viele ihrer Kollegen, sagt Fleischman­n, würden traurige Kinder nach den Sommerferi­en erleben. Und zwar dann, wenn die Eltern mit ihren Kindern weder im Urlaub waren noch Zeit für sie hatten. Dabei würden sich Kinder, die mit den Eltern in den Ferien Zeit verbringen und etwas erleben, besser erholen, so Fleischman­n. „Die Kinder erinnern sich positiv daran und sind glücklich.“Materielle­s sei nicht das Wichtigste im Leben, erklärt die Pädagogin. Das sei auch den meisten Kindern bewusst. „Das Wichtigste ist wirklich gemeinsam verbrachte Zeit, egal ob auf Safari irgendwo in Afrika oder beim gemeinsame­n Gassigehen mit dem Hund daheim.“

Sonja Furnier sieht das genauso: Im Leben gebe es nun einmal nicht alles mit einem Fingerschn­ippen. Zum Leben gehöre Arbeit und Fleiß. „Gut, wenn meine Kinder das so früh wie möglich lernen.“Auch das Organisier­en können die drei von ihr lernen – ohne Planung geht in der Familie nichts. Ein handtasche­ngerechter Kalender liegt auf dem Küchentisc­h, in den grünen und weißen Spalten sind in sauberer Handschrif­t Termine über Termine eingetrage­n. „Den habe ich immer bei mir“, erklärt die 43-Jährige und lacht. Zur Sicherheit hängt ein Kalender, ganz in Pink, an der Wand neben den Familienbi­ldern. Überall sind Termine eingetrage­n.

Ganz schön viel los in den Ferien daheim.

 ?? Fotos: Jonas Voss/stock.adobe.com ?? Sonja Furnier (oben links) arbeitet in Teilzeit als Krankensch­wester. Zusammen mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern Simon, Sophie und Lukas (unten von links) wohnt sie in Adelsried. In den Sommerferi­en muss sie für ihre Kinder immer ganz besonders da sein, denn die Furniers fahren selten in den Urlaub.
Fotos: Jonas Voss/stock.adobe.com Sonja Furnier (oben links) arbeitet in Teilzeit als Krankensch­wester. Zusammen mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern Simon, Sophie und Lukas (unten von links) wohnt sie in Adelsried. In den Sommerferi­en muss sie für ihre Kinder immer ganz besonders da sein, denn die Furniers fahren selten in den Urlaub.

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