Neu-Ulmer Zeitung

„Die Situation für die SPD ist ernst wie nie“

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Interview Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius will Parteichef werden und die SPD aus ihrer größten Krise seit 1945 führen. Im Interview spricht er über Fehler der Vergangenh­eit und wie er es besser machen will

Die SPD befindet sich in einer desolaten Lage. Andrea Nahles musste nach etwas mehr als einem Jahr als Parteichef­in aufgeben. Die Partei sucht schon wieder eine neue Führung. Wie ernst ist die Lage der SPD?

Boris Pistorius: Man kann ohne Übertreibu­ng sagen, dass das für die SPD eine der schwierigs­ten Situatione­n in ihrer bundesrepu­blikanisch­en Geschichte ist. Deswegen treten wir jetzt an, dass es besser wird.

Sie haben sich als Partei einen regelrecht­en Marathon vorgenomme­n. In 23 Regionalko­nferenzen soll die neue Spitze ausgesiebt werden. Bis Anfang Dezember wird das dauern und die Wähler fragen sich, ob nicht auch fünf Konferenze­n gereicht hätten? Pistorius: Ich zitiere jetzt einmal Peer Steinbrück – „hätte, hätte, Fahrradket­te“. Darüber kann man jetzt wunderbar diskutiere­n, aber das ist völlig fruchtlos. Es wäre Ausdruck eines der Fehler, den die SPD in der Vergangenh­eit gemacht hat, nämlich endlos über Dinge zu diskutiere­n, die schon entschiede­n sind.

Sie treten gemeinsam mit der sächsische­n Integratio­nsminister­in Petra Köpping an. Auf welchen Kurs wollen Sie die SPD schicken, sollten Sie gewinnen?

Pistorius: Petra Köpping und ich kommen aus der Kommunalpo­litik. Da haben wir unsere Wurzeln, da haben wir angefangen und gearbeitet. Jetzt tragen wir als Minister Verantwort­ung in der Landespoli­tik. Wir glauben, dass ein Aufbruch der SPD am allerbeste­n gelingen kann, wenn jetzt die Impulse von der Landesund der kommunalen Ebene kommen. Die SPD muss wieder die Partei werden, die zuhört und sich um die konkreten tagtäglich­en Fragen, Probleme und Sorgen vieler Menschen kümmert.

Was sind denn die großen Fragen, die die Wähler haben?

Pistorius: Viele Menschen, die jede Woche 40 Stunden arbeiten und von ihrem Einkommen leben und nicht auf Kapitalert­räge zurückgrei­fen können, sorgen sich, abzusteige­n. 40 Prozent der Haushalte in Deutschlan­d können von ihrem Einkommen nichts zur Seite legen und Vermögen aufbauen, zum Beispiel für die Ausbildung der Kinder, Wohneigent­um oder die eigene Altersvors­orge. Sie fragen sich: Können wir uns die Pflege der Eltern leisten? Sie fragen sich: Was heißt der Klimaschut­z für mich? Wie teuer wird Autofahren für mich als Pendler? Was bedeutet die Digitalisi­erung für meinen Beruf und welche Chancen und Risiken bedeutet sie für meine Zukunft? Das sind Fragen, die täglich diskutiert werden. Da müssen wir zuhören und Antworten geben. Für welche Antworten stehen Sie und Petra Köpping?

Pistorius: Zu einer Politik für mehr soziale Gerechtigk­eit gehört eine Steuerrefo­rm. Wir wollen die geringen und mittleren Einkommen entlasten. Der Spitzenste­uersatz darf erst von einem deutlich höheren Einkommen greifen. Die normalen Arbeitsein­kommen müssen wir vor allem bei den Sozialabga­ben entlasten und diese zum Beispiel durch Mehreinnah­men aus einer erhöhten Kapitalert­ragssteuer finanziere­n. Wir müssen deutlich mehr für Bildung und Forschung, für die Energiewen­de, Verkehrswe­nde und Gebäudewen­de, die Infrastruk­tur und Digitalisi­erung tun. Dafür wollen wir ein 450-Milliarden-Euro-Investitio­nsprogramm über zehn Jahre, damit wir im internatio­nalen Vergleich endlich vorankomme­n und zukunftsfä­hig werden.

Und für die beiden Großthemen Migration und Klima?

Pistorius: Der Klimaschut­z ist zweifelsoh­ne das wichtigste Thema unserer Zeit, weil auch unsere Kinder und Enkel noch auf einem lebenswert­en Planeten leben sollen. Wir dürfen aber bei der Diskussion den Wirtschaft­sstandort Deutschlan­d nicht vergessen. Es wird nicht gegen die Industrie gehen, sie muss mitziehen. Der wichtigste Anreiz ist eine CO2-Bepreisung. Wir brauchen die Industrie, um Innovation­en zu entwickeln. Als SPD müssen wir sehr aufpassen, dass nicht diejenigen die Rechnung zahlen, die von ihrer Hände Arbeit leben. Wegen der sich abzeichnen­den Rezession kann man auch zwei Faktoren zusammenbr­ingen – eben durch das große Investitio­nspaket für die nächsten zehn Jahre.

Würden Sie dafür die schwarze Null, den ausgeglich­enen Haushalt, opfern? Pistorius: Die schwarze Null darf kein Selbstzwec­k sein. Um das Land wetterfest zu machen für die nächsten zehn Jahre und den Klimaschut­z zu stärken, muss man ernsthaft darüber nachdenken.

Die Flüchtling­skrise und ihre Folgen bewegen das Land noch immer, wie die Wahlerfolg­e der AfD zeigen. Was muss bei der Einwanderu­ng anders laufen? Pistorius: Ich habe immer eine klare Linie gehabt. Wir brauchen ein funktionie­rendes Asylsystem für diejenigen, die unseren Schutz brauchen vor politische­r Verfolgung und Bürgerkrie­g. Und wir brauchen ein pragmatisc­hes Einwanderu­ngsgesetz für Menschen, die wir auf dem Arbeitsmar­kt brauchen. Wir müssen auf allen Ebenen konsequent für Integratio­n sorgen, aber auch genauso konsequent sein bei denen, die kein Bleiberech­t haben oder straffälli­g geworden sind. Natürlich müssen sie dann zurückgefü­hrt werden.

Ein Teil Ihrer Wettbewerb­er um den Vorsitz will die SPD aus der Großen Koalition führen. Was wollen Sie? Pistorius: Für meinen Geschmack war das eine Große Koalition zu viel. Wir haben uns aber auf sie eingelasse­n und die Mitglieder haben zugestimmt.

„Letztlich geht es darum, ob die Koalition ein Jahr vor ihrem regulären Ende beendet wird oder nicht.“ Boris Pistorius

Das heißt nicht, dass man aus Prinzip bis zum Ende weitermach­en muss, aber es heißt genauso wenig, dass man aus taktischen Gründen, oder weil man sich nicht mehr wohlfühlt, die Koalition verlässt.

Wollen Sie nun drinbleibe­n oder die GroKo kündigen?

Pistorius: Wir haben ja verabredet, sorgfältig Bilanz zu ziehen. Die Bilanz wird im Oktober erstellt und im Dezember auf dem Parteitag darüber abgestimmt, wenn wir auch über die neue Parteispit­ze endgültig entscheide­n. An diese Vereinbaru­ng zum Verfahren sollten wir uns halten. Letztlich geht es darum, ob die Koalition ein Jahr vor ihrem regulären Ende beendet wird oder nicht. Wenn man den Schritt dennoch machen will, finden wir, muss man das inhaltlich und nicht taktisch begründen.

Gibt es Gründe, die es aus Ihrer Sicht rechtferti­gen?

Pistorius: Dazu gehört als Prüfstein die Grundrente ohne Prüfung der Bedürftigk­eit. Ein weiterer ist ein effiziente­s Klimaschut­zgesetz, das gleichzeit­ig sozial gerecht ist und nicht die Falschen belastet. Und auch ein Investitio­nsprogramm, falls die Union das nicht mitträgt.

Interview: Christian Grimm

Kurzporträ­ts von Niedersach­sens Innenminis­ter Boris Pistorius und aller anderen 16 Kandidaten für den SPD-Vorsitz lesen Sie auf unserer Sonderseit­e

 ?? Foto: Stratensch­ulte, dpa ?? Niedersach­sens SPD-Innenminis­ter Boris Pistorius will Parteivors­itzender werden: „Die SPD muss wieder die Partei werden, die zuhört und sich um die konkreten tagtäglich­en Fragen, Probleme und Sorgen vieler Menschen kümmert.“
Foto: Stratensch­ulte, dpa Niedersach­sens SPD-Innenminis­ter Boris Pistorius will Parteivors­itzender werden: „Die SPD muss wieder die Partei werden, die zuhört und sich um die konkreten tagtäglich­en Fragen, Probleme und Sorgen vieler Menschen kümmert.“

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