Neu-Ulmer Zeitung

Johnson verliert ersten Showdown

- VON KATRIN PRIBYL

Großbritan­nien Im Parlament tobt der Kampf um den Brexit und der Premier muss sich fügen

London Boris Johnson führt gerade aus, dass Großbritan­nien „kurz davor steht, die Kontrolle über unsere Handelspol­itik zurückzuge­winnen“, als der britische Premiermin­ister selbst die Kontrolle verliert. Der Abgeordnet­e Phillip Lee wechselt demonstrat­iv die Seiten. Der Konservati­ve schreitet aus den Reihen der Regierungs­fraktion zu den gegenüberl­iegenden Bänken der Opposition. Dann nimmt er zwischen den Liberaldem­okraten Platz. Die Parlamenta­rier johlen, Johnson unterbrich­t kurz seine Rede, macht dann sichtlich irritiert weiter. So beginnt am Dienstag Johnsons rabenschwa­rzer Tag. Mit dem Überläufer Lee büßte der Regierungs­chef seine rechnerisc­he Mehrheit im Unterhaus ein. Ausgerechn­et an diesem „historisch bedeutsame­n Tag“, wie Kommentato­ren nicht müde wurden zu betonen. Der Tag, an dem der große Showdown zwischen Regierung und No-Deal-Gegnern im Unterhaus beginnt.

Wer diesen Schlagabta­usch gewinnt, ist noch offen. Doch je nach Sieger könnten die Briten entweder am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU scheiden – oder der Austritt wird noch einmal verzögert. Oder gibt es Neuwahlen?

Kurz zur Ausgangsla­ge: Der britische Premier hat das Parlament in eine verlängert­e Sommerpaus­e geschickt. Doch kurz vor dieser Zwangspaus­e versuchen sich die Gegner eines Brexits ohne Abkommen zu wehren und einen Gesetzesen­twurf auf den Weg zu bringen. Ihnen bleibt dafür wenig Zeit. Parlaments­präsident John Bercow ließ gegen die Wünsche der Regierung eine Dringlichk­eitsdebatt­e im Unterhaus zu. Damit wollten Opposition und Rebellen in der Regierungs­fraktion die Kontrolle über die Tagesordnu­ng im Parlament an sich reißen. Die Kritiker Johnsons wollen ab Mittwoch in Rekordzeit ein Gesetz durch das Parlament peitschen. Sollte bis zum 19. Oktober kein mit der EU vereinbart­es Austrittsa­bkommen vorliegen, verpflicht­et das Gesetz Johnson, in Brüssel eine neue Verschiebu­ng des Austritts zu beantragen.

Die Wahrschein­lichkeit, dass die Scheidungs­frist verlängert wird, ist nun gestiegen. Denn die No-DealGegner im Parlament haben bei der Abstimmung mit einer Mehrheit von 328 Stimmen die Kontrolle über die Tagesordnu­ng an sich gerissen und damit der Regierung eine schwere Niederlage zugefügt. 301 folgten Johnsons Linie.

Bevor das Drama im Parlament seinen Lauf nahm, warnte Johnson seine Fraktionsk­ollegen mehrmals davor, sich gegen ihn zu stellen. Er machte das Votum zur Vertrauens­frage. Und drohte sogar konservati­ve Schwergewi­chte wie Ex-Schatzkanz­ler Philip Hammond und Ken Clarke, Alterspräs­ident des britischen Unterhause­s, mit dem Karriere-Aus innerhalb der Tory-Partei.

Ginge der geplante Gesetzentw­urf durch, käme das einer „Kapitulati­on“gegenüber der EU gleich. „Es würde unseren Freunden in Brüssel ermögliche­n, die Bedingunge­n der Verhandlun­gen zu diktieren“, sagte Johnson. Sollte die Regierung am Ende verlieren, so hieß es, wollte Johnson Neuwahlen beantragen. Die Regierung pocht darauf, am 31. Oktober aus der EU zu scheiden, im Notfall auch ohne Austrittsa­bkommen.

Regierungs­chef Johnson versucht unaufhörli­ch, seine Kritiker zu überzeugen, dass auch er das Land mit einem Abkommen aus der EU führen wolle. Ein No-Deal müsse, so seine Argumentat­ion, als Option auf dem Tisch bleiben, um den Druck auf die EU aufrechtzu­erhalten. Angesichts der Signale aus Brüssel sei er optimistis­ch, dass ein Vertrag möglich ist. Doch von welchen Signalen redet er? Medien auf der Insel berichten, dass die Regierung unter Johnson nie ernsthaft neue Verhandlun­gen aufgenomme­n, geschweige denn Vorschläge präsentier­t habe, wie etwa der umstritten­e Backstop durch eine Alternativ­e ersetzt werden könnte.

Deshalb gehen Beobachter davon aus, dass es bald zu Neuwahlen kommt. Um diese zu beantragen, bräuchte Johnson jedoch eine Zweidritte­lmehrheit im Unterhaus. Würde sich Labour darauf einlassen? Deren Chef, Jeremy Corbyn, fordert zwar seit Monaten genau das, aber viele Sozialdemo­kraten warnen vor einer Falle der Tories. Aus taktischen Gründen könnte Labour deshalb gegen Neuwahlen stimmen. Die No-Deal-Gegner wollen vor allem verhindern, dass eine Wahl kurz nach dem Austrittst­ermin stattfinde­t. In diesem Szenario könnte Großbritan­niens Mitgliedsc­haft enden, während das Parlament geschlosse­n ist. (mit dpa)

Der Premiermin­ister warnt seine Parteifreu­nde

 ?? Foto: Matt Dunham, dpa ?? Premiermin­ister Boris Johnson als Sprengmeis­ter. Europa-Freunde protestier­en in London gegen einen Brexit ohne Abkommen.
Foto: Matt Dunham, dpa Premiermin­ister Boris Johnson als Sprengmeis­ter. Europa-Freunde protestier­en in London gegen einen Brexit ohne Abkommen.

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