Johnson verliert ersten Showdown
Großbritannien Im Parlament tobt der Kampf um den Brexit und der Premier muss sich fügen
London Boris Johnson führt gerade aus, dass Großbritannien „kurz davor steht, die Kontrolle über unsere Handelspolitik zurückzugewinnen“, als der britische Premierminister selbst die Kontrolle verliert. Der Abgeordnete Phillip Lee wechselt demonstrativ die Seiten. Der Konservative schreitet aus den Reihen der Regierungsfraktion zu den gegenüberliegenden Bänken der Opposition. Dann nimmt er zwischen den Liberaldemokraten Platz. Die Parlamentarier johlen, Johnson unterbricht kurz seine Rede, macht dann sichtlich irritiert weiter. So beginnt am Dienstag Johnsons rabenschwarzer Tag. Mit dem Überläufer Lee büßte der Regierungschef seine rechnerische Mehrheit im Unterhaus ein. Ausgerechnet an diesem „historisch bedeutsamen Tag“, wie Kommentatoren nicht müde wurden zu betonen. Der Tag, an dem der große Showdown zwischen Regierung und No-Deal-Gegnern im Unterhaus beginnt.
Wer diesen Schlagabtausch gewinnt, ist noch offen. Doch je nach Sieger könnten die Briten entweder am 31. Oktober ohne Abkommen aus der EU scheiden – oder der Austritt wird noch einmal verzögert. Oder gibt es Neuwahlen?
Kurz zur Ausgangslage: Der britische Premier hat das Parlament in eine verlängerte Sommerpause geschickt. Doch kurz vor dieser Zwangspause versuchen sich die Gegner eines Brexits ohne Abkommen zu wehren und einen Gesetzesentwurf auf den Weg zu bringen. Ihnen bleibt dafür wenig Zeit. Parlamentspräsident John Bercow ließ gegen die Wünsche der Regierung eine Dringlichkeitsdebatte im Unterhaus zu. Damit wollten Opposition und Rebellen in der Regierungsfraktion die Kontrolle über die Tagesordnung im Parlament an sich reißen. Die Kritiker Johnsons wollen ab Mittwoch in Rekordzeit ein Gesetz durch das Parlament peitschen. Sollte bis zum 19. Oktober kein mit der EU vereinbartes Austrittsabkommen vorliegen, verpflichtet das Gesetz Johnson, in Brüssel eine neue Verschiebung des Austritts zu beantragen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Scheidungsfrist verlängert wird, ist nun gestiegen. Denn die No-DealGegner im Parlament haben bei der Abstimmung mit einer Mehrheit von 328 Stimmen die Kontrolle über die Tagesordnung an sich gerissen und damit der Regierung eine schwere Niederlage zugefügt. 301 folgten Johnsons Linie.
Bevor das Drama im Parlament seinen Lauf nahm, warnte Johnson seine Fraktionskollegen mehrmals davor, sich gegen ihn zu stellen. Er machte das Votum zur Vertrauensfrage. Und drohte sogar konservative Schwergewichte wie Ex-Schatzkanzler Philip Hammond und Ken Clarke, Alterspräsident des britischen Unterhauses, mit dem Karriere-Aus innerhalb der Tory-Partei.
Ginge der geplante Gesetzentwurf durch, käme das einer „Kapitulation“gegenüber der EU gleich. „Es würde unseren Freunden in Brüssel ermöglichen, die Bedingungen der Verhandlungen zu diktieren“, sagte Johnson. Sollte die Regierung am Ende verlieren, so hieß es, wollte Johnson Neuwahlen beantragen. Die Regierung pocht darauf, am 31. Oktober aus der EU zu scheiden, im Notfall auch ohne Austrittsabkommen.
Regierungschef Johnson versucht unaufhörlich, seine Kritiker zu überzeugen, dass auch er das Land mit einem Abkommen aus der EU führen wolle. Ein No-Deal müsse, so seine Argumentation, als Option auf dem Tisch bleiben, um den Druck auf die EU aufrechtzuerhalten. Angesichts der Signale aus Brüssel sei er optimistisch, dass ein Vertrag möglich ist. Doch von welchen Signalen redet er? Medien auf der Insel berichten, dass die Regierung unter Johnson nie ernsthaft neue Verhandlungen aufgenommen, geschweige denn Vorschläge präsentiert habe, wie etwa der umstrittene Backstop durch eine Alternative ersetzt werden könnte.
Deshalb gehen Beobachter davon aus, dass es bald zu Neuwahlen kommt. Um diese zu beantragen, bräuchte Johnson jedoch eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus. Würde sich Labour darauf einlassen? Deren Chef, Jeremy Corbyn, fordert zwar seit Monaten genau das, aber viele Sozialdemokraten warnen vor einer Falle der Tories. Aus taktischen Gründen könnte Labour deshalb gegen Neuwahlen stimmen. Die No-Deal-Gegner wollen vor allem verhindern, dass eine Wahl kurz nach dem Austrittstermin stattfindet. In diesem Szenario könnte Großbritanniens Mitgliedschaft enden, während das Parlament geschlossen ist. (mit dpa)
Der Premierminister warnt seine Parteifreunde