Gefangen in der Rache
Katastrophe unter und über Tage
Es war 1974, am Tag nach Weihnachten, früh um 6.19 Uhr, als in der nordfranzösischen Zeche von Saint-Amé eine Gasexplosion in über 700 Metern Tiefe 42 Kumpel in den Tod riss. Sie machte Frauen zu Witwen, Kinder zu Waisen. Sorj Chalandon, 1952 in Tunis geboren, errichtet den Toten und Hinterbliebenen in seinem Roman „Am Tag davor“einen grandiosen Gedenkstein, in den sich – fern der staatlichen Trauerroutine von einst – das Leid tief eingegraben hat. Der Leser wird hineingerissen in eine Katastrophe nach der Katastrophe: Der junge Michel trauert um seinen vergötterten Bruder, die Witwe zieht weg, der Vater erhängt sich, der elterliche Bauernhof verkommt. Michel sinnt nur auf eines: Rache für den Bruder, Rache an den profitgierigen Bergwerksbetreibern … Michel, der Icherzähler in diesem in Rückblenden die Jahre zwischen 1974 und 2017 ausmessenden Buch, sieht sich als Herr der Erinnerung. Stets trägt er die Lampenmarke seines Bruders um den Hals – und doch erweist er sich als Gefangener im Schacht der Vergangenheit. Was ist die Wahrheit? Wer ist Täter, wer Opfer? Was geschah am Tag vor dem Unglück? Chalandon schreibt einfache, kurze Sätze. Ein ums andere Mal treffen sie den Leser wie ein Blitz, stürzen Gewissheiten um, geben dem vielfach gebrochenen Prozess der Wahrheitsfindung eine bewegende menschliche Tiefe. Dies ist ein Buch, das nicht mit dem letzten Satz endet.
dtv, 319 S., 23 Euro