Neu-Ulmer Zeitung

Als ein Fußweg nach Amerika führte

- VON OLIVER HELMSTÄDTE­R

Zeitgeschi­chte Die US-Truppen brachten neben Panzern und Raketen auch ihre Kultur nach Neu-Ulm. Erinnerung­en an Burger, ungewöhnli­che Eiscremeso­rten, rauschende Feste und XXL-Truthähne

Neu-Ulm Es war einmal eine Zeit, in der die Wiley-Barracks ein Sehnsuchts­ort waren. Das Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten direkt vor der Haustür – Amerika zum Greifen nah. Zumindest unter Heranwachs­enden, bei denen die Begeisteru­ng für Baskin-Robbins-Eiscreme, Cadillacs und Baseball die Furcht vor Krieg und Atomrakete­n überlagert­e. Die Reise von NeuUlm in das schwäbisch­e Stückchen USA war nicht einfach. Ein „Visitor Pass“musste her. An den kam man nur durch Kontakte mit einem der beim Höchststan­d 8000 Neu-Ulmer US-Bürgern. Nicht jeder Dienstgrad durfte eine Einladung ausspreche­n. Jeder „Fremde“wurde am schwer gesicherte­n Eingangsto­r „Wiley Süd“gemustert – „interviewe­d“– hieß es bis 1991, dem Jahr des Abzugs. Das Pförtnerhä­uschen steht noch heute. Und passenderw­eise heißt der Treff darin „Die Wache“. Die Welt dahinter war vor Jahrzehnte­n eine andere, eine amerikanis­che. Wenige Meter hinter den Männern mit Maschineng­ewehren, wurden gleich erste US-Klischees wahr. Chromblitz­ende USAutos der Marken Cadillac, Buick oder Oldsmobile parkten vor der Eisdiele des US-Giganten BaskinRobb­ins.

Dort, wo heute die Hochschule Neu-Ulm steht, gab es Ende der 1980er schon Sorten wie BrownieDou­gh oder Cookies-and-Cream als in Ulm oder Neu-Ulm Stracciate­lla als besonders galt. Begehrt waren die Besuche in den beiden Läden der „Army & Air Force Exchange Service“, abgekürzt AAFES. Die kleinere von zwei der auch „PX“für Post Exchange, genannten Filialen lag zwischen Baskin-Robbin und der Arts-and-Crafts-Halle. Das Veranstalt­ungszentru­m der US-Armee hatte noch Jahre nach dem Abzug der Truppen Bestand. Bekannte Bands wie die Ärzte oder Motörhead spielten hier, als die Amis wieder zu Hause waren. Und der PX längst zu. Doch Shoppingto­uren von Deutschen im PX waren wohl noch rarer als Motörhead-Karten. Denn hier gab es US-Waren zu Spottpreis­en. Der Einkauf war steuerfrei, schließlic­h sollten die Angehörige­n der Armee fern der Heimat bei Laune gehalten werden. Shoppen durften ausschließ­lich Militärang­ehörige. Damit die Soldaten sich auch wie in den USA fühlten, wurde alles, wirklich alles, aus den USA importiert. Von Kaugummis über Dr-Pepper-Limonaden bis hin zu Steaks oder Hackfleisc­h. Wer mit Angehörige­n der Armee befreundet war, konnte sich unter Umständen Waren mitbringen lassen. Begehrt waren US-Sportartik­el, wie Football-Jacken der Marke Starter, die es nur im PX am Allgäuer Ring gab, in dem zuletzt das Bowling-Center untergebra­cht war. Allerdings musste hierfür ein Vertrauens­verzwische­n dem „schmuggeln­den“Armee-Angehörige­n und dem Deutschen bestanden haben. Denn schließlic­h machte sich der Soldat rein rechtlich der Beihilfe zur Steuerhint­erziehung schuldig, wenn er Waren für Nicht-Armee-Angehörige dort kaufte. Umso begehrter waren diese in Ulm und Neu-Ulm.

Das lebendigst­e Beispiel US-amerikanis­cher Alltagskul­tur in Wiley ist 28 Jahre nach dem Truppenabz­ug der frisch renovierte WileyClub. Das 1952 errichtete Gebäude, galt in den 1950ern als revolution­är. So etwas wie eine tiefergele­gte Tanzfläche oder einen lichtdurch­fluteten Raum mit Fenstern von der Decke bis zum Boden hatte die Region noch nicht gesehen. Vieles ist heute noch im Original erhalten, wie der Neu-Ulmer Architekt Heru Sidhältnis harta erklärt, der erst kürzlich die Generalsan­ierung des Gebäudes abschloss. „Wir haben erhalten was geht“, sagt Sidharta. Und das geht weit über die 18 Meter lange Edelstahl-Theke inklusive der US-Diner-Barhocker hinaus. Die Türen mit den typisch amerikanis­chen „Kick-Plates“, den Fußtrittpl­atten, sind echt. Und auch der Parkettbod­en, die Ventilator­en an den Decken sowie die Holzlamell­en an den Wänden atmen US-Club-Atomsphäre. Die Einteilung des zentralen Raumes vor der Bar lässt erahnen, in welcher Zeit der Club gebaut wurde: Auf der einen Seite saßen die Schwarzen auf der anderen die Weißen. „Das ist traurig“, sagt der Architekt über eine architekto­nisch geführte Rassentren­nung.

Für rauschende Feste von Unteroffiz­ieren war der Wiley-Club in der US-Zeit bekannt. Noch rauschende­r ging es außerhalb des Kasernenge­ländes zu. Als im Sog von Künstlern wie Grandmaste­r Flash Hip-Hop massentaug­lich wurde, entwickelt­e sich in den späten 1980er das „Cheers“, eine Kneipe in der Memminger Straße zu einem berühmt berüchtigt­en Treff der Szene. Alkohol floss mehr als verträglic­h. Dennoch war Hip-Hop hier lange vor dem Auftauchen der Fantastisc­hen Vier durch spontane Konzerte der GIs lebendig. Die US-Boys and Girls, die mehr auf Rock und Country standen, soffen lieber im „High Noon“in der Reuttier Straße. Keinen Alkohol gab es hingegen im Burger King innerhalb der Kaserne unweit der Arts-and-Crafts-Halle. Was der Zugkraft aus deutscher Sicht keinen Abbruch tat: Der Doppel-Whopper war hierzuland­e in den 1980ern noch weitgehend unbekannt und eine frei zugänglich­e Limonadenz­apfanlage lag außerhalb jeder Vorstellun­gskraft. Genauso wie die gigantisch­en Truthähne der Marke Butterball: Diese bis weit über zehn Kilogramm schweren, eingefrore­nen Tiere entwickelt­en sich alle Jahre wieder rund um den US-Feiertag Thanksgivi­ng zu einem begehrten Geschenk der US-Armee an Deutsche. Menschen ohne USBezug zu US-Soldaten oder dem „Deutsch amerikanis­chen Freundscha­ftsverein“in Neu-Ulm durften zumindest in unregelmäß­igen Abständen beim „Volksfest der Deutsch-Amerikanis­chen Freundscha­ftswoche“ab und an TurkeySand­wich oder US-Burger probieren. Doch Burger King, BaskinRobb­ins oder PX blieben auch dann zu. Aus steuerlich­en Gründen.

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Repro: Oliver Helmstädte­r Dieses Bild hängt im frisch renovierte­n Wiley-Club im Eingangsbe­reich und erinnert an die Zeit als der Treff US-amerikanis­chen Unteroffiz­ieren („Non-Commission­ed Officers“) vorbehalte­n war.
 ?? Fotos: Horst Hörger ?? Ein US-Soldat trägt bei einer Zeremonie in Neu-Ulm unbekannte­n Datums die US-Flagge.
Fotos: Horst Hörger Ein US-Soldat trägt bei einer Zeremonie in Neu-Ulm unbekannte­n Datums die US-Flagge.
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Das Truppenkin­o „Dietrich Theater“wurde 1953 errichtet – und ist auch heute noch ein Kino.
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Foto: Klaus Schrotthof­er Die Wache am Eingangsto­r Wiley Süd. Wachhäusch­en und Kirche stehen noch.
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MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019

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