Neu-Ulmer Zeitung

Jeder Strich steht für einen Ermordeten

- VON MARCUS GOLLING

Kunst Der Ulmer Marc Hautmann erinnert mit „Todesfuge“an die 6,3 Millionen Opfer des Holocaust. Die Performanc­e dauert 450 Tage

Ulm Die Toten besuchen Marc Hautmann jeden Tag. Zuhause, beim Frühstück, nachmittag­s im Park. 6,3 Millionen Juden sind in der Zeit des Nationalso­zialismus in Europa ermordet worden, ein unvorstell­bares Menschheit­sverbreche­n, eine unvorstell­bare Zahl. Der gebürtige Ulmer Hautmann will sie begreifen – und hat deswegen ein Langzeit-Kunstproje­kt begonnen, das nun auch seinen Weg in die Öffentlich­keit findet: Bei der Performanc­e „Todesfuge“zeichnet er seit Mai für jeden der unschuldig Ermordeten einen Strich auf ein Blatt. Jeden Tag 14 000.

Begonnen hat der 44-Jährige mit seiner Aktion „Todesfuge“bei einer Ausstellun­g in der ScanplusGa­lerie im Ulmer Science Park, die kürzlich zu Ende ging. Die Idee dazu kam Hautmann aber bereits im vergangene­n Jahr, als er zu Besuch in Schwerin war. Als er dort, so berichtet er, vor einem Büro der Partei AfD stand, sei er von Unbekannte­n fotografie­rt und weggeschic­kt worden, „meine Kinder wurden sogar beschimpft“. Und das, Hautmann zufolge nur, weil er ganz sicher nicht wie ein Rechter aussieht. Ein Mensch wird zum Störfaktor, einfach so. Er wird nur fortgetrie­ben, aber was ist der nächste Schritt?

Ein Moment, der den Künstler nachdenkli­ch macht. Hautmann, geboren 1974 in Neu-Ulm, beschäftig­t sich schon lange mit der nationalso­zialistisc­hen Judenverni­chtung. Er will die Lücken zeigen, die die Getöteten in Deutschlan­d und der Welt hinterlass­en haben – und begreifbar machen, was ihr Tod in der Gegenwart bedeutet. Die Performanc­e „Todesfuge“, die ihren Namen und ihren Rhythmus vom berühmten, 1948 publiziert­en Gedicht Paul Celans hat, besteht darin, dass Hautmann sich jeden Tag eineinhalb bis zwei Stunden Zeit nimmt. Er nimmt gerasterte Blätter und beginnt Striche zu machen, auf jede Seite 1400, zehn Blätter je Sitzung, 450 Tage lang. Die Zahl ist nicht zufällig gewählt: 450 Mitglieder hat die israelitis­che Gemeinde in Ulm derzeit nach eigenen Angaben. Die 6,3 Millionen in der NS-Zeit ermordeten Juden werden so mit der jüdisch-deutschen Gegenwart in Verbindung gebracht.

Die stupide erscheinen­de tägliche Arbeit an „Todesfuge“nimmt Hautmann nicht als sinnlos wahr, Motivation­sprobleme habe er keine, „ich weiß, dass es für mich einen Sinn ergibt“, sagt er. Dass jeder Strich für einen getöteten Menschen steht, lässt den 44-Jährigen nicht kalt, wenn die tägliche Arbeit erledigt ist, sei er „nicht glücklich“. Die Reaktionen anderer Menschen auf die Performanc­e sind, wenn er in der Öffentlich­keit die Strichlist­en ausfüllt, sehr unterschie­dlich: Viele sprechen ihn darauf an, was er da tue, manche schütteln den Kopf, andere tippen sich an die Stirn oder fragen, ob Hautmann mit so etwas sein Geld verdiene. Aber es gebe auch Menschen, die tief bewegt seien, sagt Hautmann. Eine Frau habe sich kürzlich mit Tränen in den Augen bei ihm bedankt.

Während der Ulmer Friedenswo­chen geht der Künstler mit seiner Langzeit-Performanc­e bis Ende September hinaus in die Stadt. Heute, Mittwoch, von 12 bis 14 Uhr, und morgen, Donnerstag, von 10 bis 12 Uhr, ist er beispielsw­eise auf Einladung der Ulmer Ärzteiniti­ative im Stadthaus zu Gast, weitere Stationen in den kommenden Wochen sind das Bürgerhaus Mitte, die KZ-Gedenkstät­te Oberer Kuhberg und das Einsteinha­us. Wie die Begegnunge­n mit Besuchern sein werden? Darüber macht sich Hautmann, der beruflich eine Werbeagent­ur mitbetreib­t, nur wenige Gedanken. „Ich gehe da naiv hin“, sagt er. Auch was am Ende der 450 Tage passiert, habe er noch nicht beschlosse­n, er wolle sich treiben lassen. Er überlege, die 4500 Blätter dann zu verbrennen.

Termine Wann und wo Marc Hautmann mit seiner Performanc­e „Todesfuge“zu Gast ist, steht unter anderem online auf friedenswo­chen-ulm.de.

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Foto: Linus Sawatzki 6,3 Millionen Striche, für jedes jüdische NS-Opfer einen, zeichnet der Ulmer Künstler bei seiner Performanc­e „Todesfuge“.
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Marc Hautmann

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