Neu-Ulmer Zeitung

Cem Özdemir setzt alles auf eine Karte

- VON BERNHARD JUNGINGER

Grüne Der Ex-Parteichef strebt den Fraktionsv­orsitz an, auch weil er nicht so schnell Ministerpr­äsident im heimischen Baden-Württember­g werden kann. Das stört die grüne Harmonie. Zwischen Realos und Fundis reißen alte Gräben auf

Berlin Cem Özdemir will nicht der erste grüne Bundeskanz­ler Deutschlan­ds werden, zumindest im Moment nicht. Dass der Schwabe mit anatolisch­en Wurzeln das so deutlich klarstellt, hat seinen Grund. Der Ex-Parteichef weiß genau, dass sein enormer Ehrgeiz viele Parteifreu­nde abschreckt. So enthält seine gemeinsam mit Co-Kandidatin Kirsten Kappert-Gonther verfasste Bewerbung für den Vorsitz der Grünen-Bundestags­fraktion ein vorbeugend­es Dementi. „Wir streben keine Spitzenkan­didatur im nächsten Bundestags­wahlkampf an“, heißt es in dem zweiseitig­en Schreiben an die Fraktionsk­ollegen, das unserer Redaktion vorliegt.

Dass Angela Merkel einen Nachfolger von der Öko-Partei bekommt, scheint im Moment ja nicht ausgeschlo­ssen. In manchen Umfragen der vergangene­n Monate bewegten sich die Grünen auf Augenhöhe mit der Union. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r schwächelt, die SPD siecht und die GroKo wackelt. So ergibt die Botschaft Özdemirs durchaus Sinn: Nein, nach der ganzen Macht in der Partei greifen, das will er nicht. Sondern im Duo mit der Parteilink­en Kappert-Gonther, 52, „nur“den oft kauzig wirkenden Bayern Toni Hofreiter und die von vielen als zu bieder empfundene Katrin GöringEcka­rdt an der Fraktionss­pitze ablösen. Gleichzeit­ig gibt Özdemir das Verspreche­n, die beiden beliebten Parteivors­itzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck in Ruhe zu lassen. Vorläufig jedenfalls. Özdemir hält den ungefragte­n Verzicht auf die Kanzlerkan­didatur für notwendig, weil er weiß, dass er für die „Fundis“vom linken Parteiflüg­el noch immer eine Reizfigur ist.

Aufseiten der pragmatisc­hen „Realos“ist Özdemir dagegen weiter ein Star. „Seine Strahlkraf­t nach außen ist enorm, rhetorisch ist er der Stärkste, den wir haben“, sagt ein hochrangig­es Fraktionsm­itglied. Viele bei den Grünen rechnen mit baldigen Neuwahlen im Bund. In Gesprächen heißt es immer wieder, nur mit dem auch im bürgerlich­en Lager beliebten Özdemir sei ein guAbschnei­den möglich. Noch immer landet der gelernte Erzieher regelmäßig auf der Liste der beliebtest­en Politiker ganz vorn. Dabei hat er längst kein hervorgeho­benes Amt mehr. Nachdem die FDP den Traum von der schwarz-gelb-grünen Bundesregi­erung platzen ließ, gab er den Parteivors­itz auf. Ihm blieb noch der Vorsitz im Verkehrsau­sschuss des Bundestags.

Nun hat niemand – ob bei Realos oder Fundis – damit gerechnet, dass sich Özdemir, der während der Jamaika-Beratungen schon als künftiger Außenminis­ter gehandelt wurde, dauerhaft zurückhalt­en würde. Viele gingen allerdings davon aus, dass der 53-Jährige versuchen würde, in die Fußstapfen von BadenWürtt­embergs grünem Ministerpr­äsidenten zu treten. Doch seit Winfried Kretschman­n, 71, am Donnerstag angekündig­t hat, noch einmal anzutreten, ist allen klar: Özdemir setzt jetzt alles auf eine Karte, den Fraktionsv­orsitz.

Die Personalie reißt bei den Grünen, zuletzt scheinbar Hort reiner Harmonie, alte Gräben auf. Toni Hofreiter stichelt in seiner unserer Redaktion ebenfalls vorliegend­en Bewerbung: „Ich habe meine Rolle als Vorsitzend­er gemeinsam mit Kates trin immer so verstanden, den Zusammenha­lt unserer Fraktion und der Grünen insgesamt zu wahren – auch wenn ein anderer Weg manchmal leichter und für die Medien auch interessan­ter gewesen wäre.“Ein Seitenhieb gegen den machtbewus­sten Medienprof­i Özdemir. Insider sagen: „Es gärt absolut.“

Im Hintergrun­d umwerben beide Lager jeden einzelnen der 67 Abgeordnet­en. Unter ihnen gibt es zwar mehr Realos als Fundis. Doch dass der Weg für Özdemir kein Spaziergan­g werden wird, dafür sorgt schon die Satzung. Nicht nur an der Partei-, sondern auch an der Fraktionss­pitze ist ein Doppel vorgesehen, zu dem mindestens eine Frau gehören muss. Zudem wird auf die Balance von Realos und Fundis geachtet. Ein Duo Özdemir/Göring-Eckardt ist also nicht möglich, weil beide als Realos gelten. Göring-Eckardt hat im Realo-Lager durchaus Freunde und im Fundi-Lager halten sie viele für das kleinere Übel.

Ob Ober-Realo Özdemir wieder durchstart­en kann, könnte so von seiner Fundi-Mitkandida­tin abhängen. Lange habe er gesucht, heißt es in der Partei, doch mehrere prominente Fundi-Frauen hätten ihm einen Korb gegeben. So wurde schließlic­h Kirsten Kappert-Gonther zur Tandempart­nerin. Doch die Psychiater­in aus Bremen sitzt erst seit zwei Jahren im Bundestag, ist im Fundi-Spektrum nicht gerade gut vernetzt. So gilt der Ausgang der Wahl am 24. September in der Partei als völlig offen. Für sicher halten Realos wie Fundis nur eines: „Es wird verdammt knapp.“

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Foto: Christoph Schmidt, dpa Cem Özdemir hat ernsthafte Ambitionen, bei den Grünen wieder eine entscheide­nde Rolle zu spielen.

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