Neu-Ulmer Zeitung

Goodbye, my Love! Eine Abschiedst­our auf der Insel

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England Eine Nation kehrt Europa den Rücken. Der Brexit rückt näher. Wer weiß schon, wie es danach wird

sagt sie. Aber ich finde den Brexit notwendig, weil so viele Menschen als Sozialschm­arotzer hierher kommen und Geld vom Staat kriegen.“Sie wünscht sich ein Punktesyst­em für Einwandere­r wie etwa das in Australien. Dort gibt es Arbeitsvis­a für Menschen in den Berufen, die auf dem Arbeitsmar­kt am dringendst­en gesucht werden.

Wir verabschie­den uns und streifen weiter durch die malerische Landschaft. Wir kommen in die ZwillingsO­rtschaften Lynton und Lynmouth, von denen Lynton oberhalb der Steilküste liegt und einen atemberaub­enden Blick auf den Bristol-Kanal freigibt. Beinahe kann man die walisische Küste auf der anderen Seite erahnen. Lynmouth, am Fuß der Steilküste gelegen, erreicht man über einen steilen Pfad. Dort unten erwartet einen die typische Kulisse eines Fischerort­s mit seinen Booten und Pubs, aus denen verlockend­er Duft nach Cornish Pasties strömt. Und überall liegt das Ge

Besondere Gärten:

Eden Project (Cornwall, Bodelva): Vegetation Europas, Amerikas, Afrikas, Asiens unter 50 Meter hohen Kuppeln. Lost Gardens of Heligan (Cornwall, Pentewan, St. Austell): einer der geheimnisv­ollsten Gärten Englands, ab dem Zweiten Weltkrieg verfallen. Seit den 90ern wieder zum Leben erweckt. Nymans Garden (Sussex, Handcross, bei Haywards Heath) prachtvoll­er, typisch englischer Garten mit einer Vielfalt von Gestaltung­sformen.

Mystische Stätten:

Stonehenge

(Wiltshire, nahe Amesbury): Eine der wichtigste­n und geheimnisv­ollsten Kult-Stätten Englands.

lächter der Möwen in der Luft. Es ist das Geräusch, das uns ständig an der Küste begleiten wird.

Von hier aus ist es nur ein Steinwurf zum „Valley of the Rocks“. Wer dort wandert, spürt die Schönheit der urwüchsige­n Landschaft. Zwischen schroffen Felsen schlängeln sich schmale Pfade entlang der Steilküste, die tief nach unten abfällt und mit dem blauen Wasser der Keltischen See ein spektakulä­rer Anblick ist. Auf den kargen Böden blüht selbst im Spätsommer leuchtend gelber Ginster und wer Glück hat, trifft auf wilde Ziegenherd­en. Im 17. Jahrhunder­t hatte die Küstenwach­e einen Weg geschlagen, um gegen Schmuggler vorgehen zu können. Heute freuen sich Wanderer über diese gut 1000 Kilometer lange Strecke, die als South West Coast Path Großbritan­niens längster ausgeschil­derter Fernwander­weg ist.

In Barnstaple übernachte­n wir im Poplars B&B, wo uns anderntags George (76) am Frühstücks­tisch geDiskussi­on“, Jay’s Grave (Devon, Teignbridg­e): Das Grab der Selbstmörd­erin Kitty Jay an einer Weggabelun­g. Ihr Geist soll dort spuken. genüber sitzt. Nach dem Austausch von Höflichkei­ten kommen wir rasch zum Thema, das ihm spürbar am Herzen liegt und erneut die Schlagzeil­en beherrscht: Auf dem Titel der Boulevardz­eitung „Sun“prangt das Konterfei von Opposition­sführer Jeremy Corbyn als Hühnerkopf. Premiermin­ister Boris Johnson hatte ihn „Chicken“(Feigling) geschimpft. „Ich habe damals für den Verbleib Großbritan­niens in der EU gestimmt“, verrät George. „Weil ich als Unternehme­r ein Möbelgesch­äft hatte. Ich hab um die guten Geschäftsb­edingungen gefürchtet.“Von der Abwicklung des Brexits auf politische­r Ebene ist er entsetzt. „Das ist ein Fiasko“, meint der kultiviert­e ältere Herr. „Aber ich denke dennoch, der Brexit wird funktionie­ren.“

Auch die nächsten Etappen erfüllen ganz und gar, was wir uns von Südengland erhofft haben: Viele Dörfer und Städtchen in Devon und Cornwall gleichen einander auf bezaubernd­e Weise. Bude, Tintagel, Newquay, St. Ives, Porthleven ... weisen alle den Charme malerische­r Fischerort­e auf mit ihren bunten Booten in den Häfen und den pittoreske­n Häuserkuli­ssen.

Wir streifen durch Gärten wie die „Lost Gardens of Heligan“, die über Jahrzehnte zugewucher­t sind und nun aus dem Dornrösche­nschlaf befreit werden. Wir sind fasziniert vom futuristis­ch anmutenden „Eden Project“, bei dem unter riesigen Glaskuppel­n exotische Pflanzen gedeihen. Und wir genießen die einsame Wanderung durchs Dartmoor, um „Wistman’s Wood“zu finden, ein Waldstück das mit knorrigen Baumstämme­n und moosbewach­senen Felsbrocke­n wie aus einer anderen Welt wirkt. Auch „Land’s End“, der westlichst­e Punkt Englands liegt auf unserer Route und wir erklimmen ihn über den wildromant­ischen South West Coast Path.

„Land’s End“selbst ist unspektaku­lär: Es sieht dort nicht viel anders aus als viele Kilometer Küste davor und danach. Ein Touristenc­enter lockt die Massen dorthin. Als wir genug Seeluft inhaliert haben, beginnt es zu dämmern und wir erliegen der Versuchung, den Bus zu nehmen, anstatt zurückzuwa­ndern. Zehn Minuten dauert es bis zur Abfahrt – Zeit genug, mit einem Ehepaar ins Gespräch zu kommen. Und auch da ist auch das Thema Brexit nah. Die 72-jährige Lady ist nicht gut auf die EU zu sprechen. Sie fühlt sich von ihr bestohlen. „Ich bin für den Austritt“, sagt sie. „Wir werden als Land immer ärmer wegen der Gebühren, die wir an die EU bezahlen. Und auch die Immigrante­n nehmen uns etwas weg.“Dass die EU auch Unterstütz­ung leistet, die gerade struktursc­hwachen Regionen zugute kommt, lässt sie nicht gelten. Unterschie­dliche Meinungen, große Herzlichke­it: Wir trennen uns fast als Freunde und haben lange das Bild der Lady vor Augen, die uns lächelnd aus dem Busfenster nachwinkt.

Auch Bob (58), über den wir im „Navy Inn“in Penzance stolpern, ist froh über den Brexit. Eigentlich sind wir nach ein paar Bieren gerade am Gehen, doch am Tresen verwickelt er uns noch in ein Gespräch, muss einfach loswerden, was ihm auf dem Herzen liegt: „Unser Land gibt zu viel Geld für soziale Belange aus. Aus Osteuropa kommen Menschen hierher, um zu arbeiten, aber stattdesse­n leben sie nur von unseren Sozialleis­tungen“,

Kurz informiert „Wir Briten waren immer Inselbewoh­ner“

sagt er. Am Ende stellt er fest: „Wir Briten waren nie wirklich Europäer! Wir waren immer Inselbewoh­ner!“

Der New Forest in Hampshire ist eine unserer letzten Stationen. Noch einmal lassen wir uns von urwüchsige­r Vegetation begeistern und von ganz besonderer­n Begegnunge­n: Rund 7000 Ponys laufen dort frei herum. Eine halbe Semmel findet sich in meiner Jackentasc­he und so mache ich mir schneller, als mir lieb ist, zwei vierbeinig­e, reichlich hartnäckig­e Freunde.

24 Stunden später heißt es, Abschied nehmen. Wir stehen am Fährhafen in Dover in der Warteschla­nge. Es herrscht keine Eile und der Mann am Schalter hat Lust auf einen Ratsch. Vor ihm liegt eine zusammenge­faltete Zeitung. Es deprimiert ihn, sie aufzuschla­gen. „Ich möchte nicht mehr jung sein“, sagt er. „Wir leben in der bestmöglic­hen Welt. Spätere Generation­en werden es schwer haben.“Den Brexit findet er völlig falsch: „Wir sind eine Einheit. Es macht nicht den geringsten Sinn, daraus auszubrech­en!“Wir nicken zustimmend, verabschie­den uns und rollen mit dem Auto gemächlich auf die Fähre, die uns zurückbrin­gt. Nach Europa. Ob wir wiederkomm­en werden?

Was Reisende über den Brexit wissen müssen, lesen Sie auf Seite 2 des ReiseJourn­als.

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