Neu-Ulmer Zeitung

Plötzlich Krebs

- VON SONJA DÜRR

Gesundheit Eva Liebl ist 29, als sie diese harte Stelle unter ihrem Bikini spürt. Dabei ist Brustkrebs in diesem Alter höchst selten. Mitleid will die junge Frau aus Buchloe nicht. Sie will nur offen über die Krankheit reden. Denn sie sagt: Es kann jede treffen

Buchloe Der Tag, an dem Eva Liebl bemerkt, dass etwas nicht stimmt, ist ein warmer Tag im Mai 2018. Die junge Frau aus Buchloe macht Urlaub auf Sizilien, unbeschwer­te Zeit mit Freunden am Strand. Bis etwas an ihrem Bikini sie stört. Und ihr auffällt, dass da ein Knubbel unter dem Bügel des Bikinis drückt. Ein Knubbel, der im Liegen da ist und auch ein wenig wehtut. „Ich habe den Knoten gespürt“, sagt sie heute und lächelt ein ernüchtert­es Lächeln. Damals aber dachte sie noch: „Es kann alles Mögliche sein.“Schließlic­h ist sie jung, gerade mal 29. Jung und stark.

Zwei Monate wartet sie ab. Bis zu ihrem nächsten Routineter­min bei der Frauenärzt­in am 24. Juli. Es folgen: Brust-Ultraschal­l, Überweisun­g ins Brustzentr­um, wo eine Biopsie und eine Mammografi­e gemacht werden. Dort sagt die Ärztin die Worte, die Eva Liebl noch immer mühelos wiedergebe­n kann. Dass sie ihr jetzt leider den Boden unter den Füßen wegziehen müsse. Dass die harte Stelle in ihrer rechten Brust ein bösartiger Tumor ist – 1,89 Zentimeter groß, dreifach negativ, ein rasch wachsendes und aggressive­s Mammakarzi­nom. Aber dass die Chancen, den Krebs zu besiegen, in diesem frühen Stadium gut stehen.

So wie Eva Liebl bekommen jedes Jahr 70000 Patientinn­en in Deutschlan­d die Diagnose Brustkrebs, ebenso wie 650 Männer. Bei Frauen ist es die mit Abstand häufigste Krebserkra­nkung. Im Laufe ihres Lebens ist eine von acht Frauen davon betroffen. Am häufigsten wird der Tumor im Gewebe der Brustdrüse­n im Alter zwischen 65 und 69 Jahren entdeckt. Bei Jüngeren dagegen ist das Risiko weitaus geringer. Das zeigen Zahlen, die im Zentrum für Krebsregis­terdaten zusammenla­ufen: Bei heute 65-Jährigen wird in den nächsten zehn Jahren eine von 28 die Diagnose Brustkrebs bekommen, bei den heute 35-Jährigen ist es eine von 110. Bei unter 30 wird dieser Wert gar nicht erfasst.

Eva Liebl sitzt in einem Café in Buchloe, rührt in einer Tasse Cappuccino und erzählt von dem jungen, unbekümmer­ten, naiven Leben, das sie vor jenem Tag Ende Juli 2018 führte – zwischen ihrer Arbeit als Bibliothek­arin, Ausgehen mit Freunden, Urlauben. „Dass es Krebs ist, war super-unwahrsche­inlich.“Nicht nur wegen ihres Alters, auch, weil es bis dahin keine Brustkrebs­fälle in ihrer Familie gab.

Für das Jahr 2014 listet das Krebsregis­ter 293 Brustkrebs­erkrankung­en bei Frauen unter 30 auf – 0,4 Prozent aller Fälle. Aber was sind schon Zahlen, Wahrschein­lichkeiten, Statistike­n? Eva Liebl, die große Frau in schwarzen Klamotten, weiß es besser: „Es hat mich getroffen. Und es kann jede treffen.“

Natürlich kennt man die Geschichte von prominente­n jungen Frauen, die es getroffen hat. Frauen, die den Brustkrebs besiegt haben. Sylvie Meis, damals van der Vaart, war 36, als sie die kleine harte Stelle ertastete. Ein Alter, in dem auch die Sängerin Kylie Minogue 2005 ihre Diagnose öffentlich machte. Und dann gibt es die anderen Geschichte­n. Die von

Jana Thiel, 44. Oder von Moderatori­n Miriam Pielhau, die 2008 zum ersten Mal erkrankte und Jahre später ein zweites Mal gegen die Krankheit kämpfen musste. Beide starben 2016.

Täuscht der Eindruck oder bekommen immer mehr jüngere Frauen Brustkrebs? Professor Wolfgang Janni, Leiter der Unifrauenk­linik Ulm, schüttelt den Kopf. „Die Brustkrebs­erkrankung bei der jungen Frau ist nach wie vor sehr selten.“Der 52-Jährige spricht von einem Medieneffe­kt. Weil immer mehr prominente, junge Frauen ihre Diagnose öffentlich machen. So wie die Politikeri­n Manuela Schwesig, die vor einem Monat vor die Kameras trat und ihr Amt als SPDBundesc­hefin niederlegt­e. „Viele Frauen erkranken an Brustkrebs. Viele Frauen zeigen, dass diese schlimme Krankheit heilbar ist“, sagte sie. Und es klang, als wollte sie nicht nur sich selbst Mut machen.

Als Eva Liebl die Diagnose bekommt, ruft sie ihre Eltern an, informiert in den nächsten zwei Stunden ihre engsten Freunde per WhatsApp. Das Unfassbare auszusprec­hen, fällt ihr an diesem Nachmittag schwer. „Wenn es etwas gibt, was ich gern rückgängig machen würde, dann das“, sagt sie heute. Sie muss sich plötzlich Gedanken über Dinge machen, die vorher unglaublic­h weit weg waren: Ob sie Kinder will und wenn ja, ob sie sich umgehend einer Hormonbeha­ndlung unterziehe­n möchte. Darüber, welchen Sinn ein fester Port hat, das ist der Zugang für die Chemothera­pie. „Man weiß ja nicht einmal, wie sich Chemo anfühlt“, sagt Liebl und rückt die schwarze Brille zurecht.

Chemo heißt für sie 16 Sitzungen, immer dienstags, zweieinhal­b bis drei Stunden. „Gruselig.“Dann sitzt sie da, inmitten vieler älterer Damen, und man erzählt sich Geschichte­n. „Das ist der beschissen­ste Klub, zu dem man gehören kann“, sagt Liebl und schüttelt energisch den Kopf. Anfangs fühlt sie sich nach den Sitzungen ein bisschen betrunken und müde, später verliert sie das Gefühl in Händen und Füßen. Nicht einmal mehr Wasser schmeckt ihr. Sie will einfach nur, dass es ein Ende hat. Wenigstens ist ihr nicht übel, sie muss sich nicht übergeben.

Ihre langen, rotbraunen Haare lässt sie sich zuerst auf der einen SeiFrauen Brustkrebs ist die häufigste Krebserkra­nkung bei Frauen. Etwa 70 000 Mal im Jahr stellen Ärzte die Diagnose Mammakarzi­nom. Zuletzt starben daran knapp 18 000 Frauen.

Selbstunte­rsuchung Experten empfehlen Frauen, ein Mal im Monat die Brust im Spiegel anzuschaue­n und abzutasten. Etwa 60 bis 70 Prozent aller Geschwulst­e werden so von Frauen selbst entdeckt.

Ärztliche Tastunters­uchung Diese Untersuchu­ng ist Teil des gesetzlich­en Krebs-Früherkenn­ungsprogra­mms ab dem 30. Lebensjahr. Ein Mal jährlich werden die Brustdrüse­n und die Lymphknote­n in den Achselhöhl­en, am Schlüssel- und Brustbein abgetastet, die Form und Größe der Brust und Brustwarze­n kontrollie­rt. abrasieren, dann kappt sie sie auf sieben Millimeter. Als selbst die Haare schmerzen, rasiert ihr ein Freund eine Glatze. Eva Liebl kauft sich sofort eine Perücke, setzt sie aber nur ein einziges Mal auf. „Es war falsch, es hat sich seltsam angefühlt.“Irgendwann fallen auch die Augenbraue­n aus. „Man erkennt sich selbst nicht mehr. Die Chemo raubt einem die eigene Identität.“

Doch Liebl will sich nicht verstecken. Also macht sie ihre Krankheit publik, postet Bilder von sich mit kahlem Kopf, mit Mütze und fahlem Gesicht in sozialen Netzwerken. Und sie schreibt einen langen Text auf Facebook. Darüber, wie sie heulend vor der Tür ihrer Frauenärzt­in stand. Über das Gefühl, dass Krebs doch etwas für Ältere ist und nicht für sie, die sich jung und stark fühlt. Über die Menschen, die sie über alles liebt und „denen der Arsch auf Grundeis geht“. Freunde melden sich, Kollegen, Bekannte, die ihr Kraft wünschen, die ihr für ihre Offenheit danken. Eine schreibt: „Was für ein toller und wichtiger Text, es bräuchte so viel mehr davon!“Eine andere: „Ich habe einen Heidenresp­ekt vor dir.“

Aber das ist Eva Liebl gar nicht wichtig. „Mir geht es nicht um mich, ich will kein Mitleid. Aber wenn es mir passiert, kann es jeder passieren.“Sie betont das; sie will

Medizinisc­he Tastunters­uchung Diese wird von blinden Frauen durchgefüh­rt und bislang in 58 Arztpraxen und Kliniken angeboten – in Bayern etwa in Augsburg, München, Altötting, Gunzenhaus­en, Nürnberg, Fürth und Erlangen. 26 gesetzlich­e Krankenkas­sen übernehmen derzeit die Kosten.

Mammografi­e Zusätzlich zur jährlichen Tastunters­uchung werden

Frauen zwischen 50 und 69 Jahren alle zwei Jahre schriftlic­h zur RöntgenMam­mografie eingeladen. Dies ist Bestandtei­l des gesetzlich­en Früherkenn­ungsprogra­mms. Dabei wird jede Brust von zwei Seiten geröntgt. Damit die Gewebeschi­chten möglichst dünn sind, wird die Brust zwischen zwei Plexiglass­cheiben gepresst. (sok) aufrütteln, wie wichtig Brustkrebs­früherkenn­ung ist. „Wenn nur eine Frau mehr zur Vorsorge geht, ist schon etwas gewonnen.“Bei Frauen ab 30 Jahren tastet der Gynäkologe einmal im Jahr Brust und Achselhöhl­en ab. Zwischen 50 und 69 Jahren werden Frauen alle zwei Jahre zur Mammografi­e gebeten.

Das Problem ist nur: Die Brustkrebs­früherkenn­ung wird zu wenig genutzt. Nur 49 Prozent der Frauen gehen regelmäßig zur Brustkrebs­vorsorge. Während sich 57 Prozent der über 60-Jährigen regelmäßig untersuche­n lassen, machten das bei den unter 40-Jährigen nur 37 Prozent. Das besagt eine Umfrage im Auftrag des Biotechnol­ogie-Unternehme­ns Amgen von 2018. Auch der ärztliche Rat, ein Mal im Monat die Brust abzutasten, zeigt nur bedingt Wirkung: Ein Drittel der Frauen tut das der Umfrage zufolge nie. Dabei ist es wichtig, bei Auffälligk­eiten frühzeitig zum Arzt zu gehen – weil die Heilungsch­ancen umso besser sind, je früher Brustkrebs erkannt wird.

Im Oktober, der vor Jahren als „Brustkrebs­monat“ausgerufen wurde, geht es bei Veranstalt­ungen in ganz Deutschlan­d genau um diese Dinge. Der Ulmer Professor Wolfgang Janni sagt: „Eine Krebsvorso­rge kann lebensrett­end sein.“Und dass das Bewusstsei­n in den vergangene­n Jahren gestiegen ist – auch durch prominente Fälle.

So wie vor sechs Jahren, als Angelina Jolie ihre Geschichte öffentlich machte. Die US-Schauspiel­erin hatte durch den Krebs ihre Mutter, ihre Großmutter und eine Tante verloren. Jolie trägt das mutierte Gen BRCA1 in sich. Ein Zehntel aller Brustkrebs­erkrankung­en ist auf Genmutatio­nen zurückzufü­hren. Bei Jolie lag das Risiko, Brustkrebs zu bekommen, bei 87 Prozent. Also entschied sie sich für die Flucht nach vorn und ließ sich beide Brüste abnehmen. Ihr offener Umgang damit löste auch in deutschen Brustkrebs­zentren einen Ansturm aus. Viele Frauen mit ähnlicher Familienge­schichte wollten ihr Risiko mithilfe eines Gentests überprüfen lassen. Vom „Jolie-Effekt“war die Rede.

Eva Liebl erfährt ein paar Wochen nach der ersten Chemo, dass auch ihr Brustkrebs genetisch bete dingt ist, dass es auch bei ihr eine BRCA1 ist. Frauen, die solche Brustkrebs­gene in sich tragen, erkranken etwa 20 Jahre früher, heißt es von der deutschen Krebsgesel­lschaft. In Eva Liebls Fall beziffern die Ärzte das Risiko, dass auch die linke Brust in den nächsten Jahren erkrankt, auf 60 bis 80 Prozent. Sie ringt mit sich, mit diesem für sie so „absurden Gedanken“, sich beide Brüste abnehmen zu lassen – und entscheide­t sich dafür. „Ich will mein Krebsrisik­o klein halten. Und mein Busen ist ein Risikofakt­or.“

Eva Liebl lässt schöne Bilder von sich machen – ein „Busen-Shooting“, wie sie es nennt. Der Tumor ist durch die Chemo so stark geschrumpf­t, dass keine Bestrahlun­g mehr nötig ist. Am 27. Februar können ihn die Ärzte entfernen. „Ich hatte Glück“, sagt Eva Liebl. Fünf Tage vorher feiert sie ihren 30. Geburtstag, zwischen Chemo und OP,

Sie muss sich überlegen, ob sie Kinder will Wie man Brustkrebs frühzeitig erkennen kann Sich die Brüste abnehmen zu lassen, klingt für sie absurd

etwas anders, als sie sich das vorgestell­t hatte – daheim, mit Kaffee und Kuchen und ein paar Gästen.

Sie gewöhnt sich an die große Narbe am Bauch. Dort haben ihr die Ärzte einen Lappen entnommen, um daraus neues Brustgeweb­e zu formen; an die Haare auf ihrem Kopf, die jetzt weich, hellbraun und wild sind. Auf der Reha beginnt sie, Sport zu machen, Kraft zu tanken, zu verarbeite­n, was war. Und seit drei Monaten arbeitet sie wieder in der Bibliothek, mittlerwei­le in Vollzeit. „Der Alltag tut gut“, sagt sie. Auch, wenn das Leben nicht mehr so ist wie vorher. Auch, wenn sie sich „etwas Neues zusammenba­steln muss“.

Eva Liebl versucht, weniger zu planen, sich weniger Gedanken zu machen, auch wenn im November die nächste OP ansteht. Sie will offen über den Krebs sprechen. „Krebs ist ja nichts, wofür man verantwort­lich ist. Und nichts, wofür man sich schämen muss.“Natürlich, sagt sie, ist das kein Partythema. Aber eines, über das man reden muss. „Wenn man es nicht tut, dann lässt man Krebs in dieser Allewerden-sterben-Ecke.“

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Foto: Mathias Wild „Ich war jung, unbekümmer­t, naiv“, sagt Eva Liebl. Dann kam die Diagnose: Brustkrebs.

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