Neu-Ulmer Zeitung

Ihr Netz fängt Kranke ohne Schutz auf

- VON SEBASTIAN MAYR

Gesundheit Ulmer Medizinstu­denten vom Verein Medinetz betreuen Menschen ohne Krankenver­sicherung.

Wie die Corona-Krise ihre Arbeit verändert und welche Forderunge­n sie für die Zeit danach haben

Ulm Die Coronaviru­s-Pandemie legt die Schwächen des deutschen Gesundheit­ssystems gnadenlos offen, das beobachten die Ehrenamtli­chen von Medinetz Ulm. Der studentisc­he Verein betreut und berät Kranke ohne Krankenver­sicherung, begleitet sie zum Arzt und übernimmt Behandlung­skosten – soweit das eigene, auf Spenden basierte Budget reicht. Und so absurd das klingt: Keine Krankenver­sicherung hat aus deutscher Sicht manchmal sogar jemand, der eigentlich sehr wohl versichert ist.

Maren Woestmann, die dem dreiköpfig­en Vorstand von Medinetz Ulm angehört, erzählt von einem solchen Fall: Da sei eine Frau, EUBürgerin, die hier lebt. Sie sei krank geworden, habe Hilfe gebraucht. Doch einen Nachweis über ihre Krankenver­sicherung habe sie nicht bei sich gehabt. Bei der Versicheru­ng in ihrer Heimatregi­on aber arbeite derzeit fast niemand – wegen der Corona-Pandemie liege das Leben dort praktisch still. Die Patientin bekam nur mit großer Verzögerun­g den Nachweis und ohne den hartnäckig­en Einsatz von Medinetz hätte die Patientin keine ärztliche Behandlung bekommen.

Rund 60 Mitglieder hat Medinetz Ulm, zwischen zehn und 25 engagieren sich im Durchschni­tt aktiv. Ihre Arbeit hat sich stark verändert. Üblicherwe­ise bietet Medinetz alle 14 Tage eine Sprechstun­de im DRK-Übernachtu­ngsheim in der Frauenstra­ße an. Doch die fällt seit Mitte März aus. Sobald es möglich ist, soll das Angebot wieder aufgenomme­n werden. Mit Sicherheit­sabstand zu den Patienten und dem Hinweis, dass jeder mit CoronaSymp­tomen anrufen und nicht vorbeikomm­en soll. Medinetz hat keine Schutzausr­üstung für die Ehrenamtli­chen.

Üblicherwe­ise begleiten die Aktiven von Medinetz, in der Regel Medizinstu­denten der Uni Ulm, ihre Patienten zum Arzt. In der Anfangszei­t der Pandemie fanden diese gemeinsame­n Besuche noch vereinzelt statt. Mit ausreichen­dem Abstand und unter der Voraussetz­ung, dass keiner der beiden Corona-Symptome zeigte. Doch auch das fällt aus. Stattdesse­n läuft nun alles telefonisc­h und per E-Mail: Wer die Hilfe des Vereins sucht, kann sich auf diesen Wegen melden. Paul Nickel, Vorstandsk­ollege von Maren Woestmann, sieht darin ein Problem: „Ich denke, dass das die Hürde für manche Leute noch einmal hebt“, sagt er. Er habe das Gefühl, dass die Zahl der Anfragen zurückgega­ngen sei. Mit Sicherheit belegen lässt sich das nicht, denn die Patientenz­ahlen bei Medinetz schwanken stark. Die Hürde sei jetzt vor allem für diejenigen größer, die schlecht Deutsch sprechen.

Viele Medinetz-Patienten kommen aus dem Ausland. Sie sind EUBürger, die hier leben, aber nicht sozialvers­icherungsp­flichtig beschäftig­t sind. In manchen Mitgliedss­taaten der Union gibt es keine Pflichtkra­nkenversic­herung. Und wer sich in Deutschlan­d freiwillig krankenver­sichern möchte, muss vorher für eine bestimmte Zeit versichert gewesen sein. Diese Bedingunge­n können nicht alle EU-Ausländer erfüllen. Andere MedinetzPa­tienten halten sich hier illegal auf und sind deswegen nicht versichert, wieder andere sind Deutsche mit hohen Schulden bei ihrer Krankenver­sicherung oder Deutsche, die schlichtwe­g nicht versichert sind. Auch hierzuland­e war der Schutz nicht immer vorgeschri­eben. Manche Menschen sind deswegen schlicht durchs Raster gefallen.

Derzeit bereiten die Medinetze in Baden-Württember­g einen offenen Brief an die Landesregi­erung vor. Sie fordern einen anonymen Krankensch­ein für die Zeit der Pandemie. Mit diesem könnten auch Menschen ohne Krankenver­sicherung behandelt werden, die Kosten übernähme ein eigens eingericht­eter Fonds. In Thüringen gibt es diese Möglichkei­t bereits. „Das System sollte für alle Menschen ohne Krankenver­sicherung da sein“, betont Maren Woestmann. Paul Nickel hofft, dass die momentane Situation der Forderung zusätzlich­en Nachdruck verleiht.

Die Aktiven wollen nach der Krise auch an die Stadt Ulm herantrete­n. Der Ende 2019 neu gewählte Vorstand aus den Medizinstu­denten Woestmann, Nickel und Charlotte Daub will eine Idee konkret ausarbeite­n: Eine Clearingst­elle soll sich darum kümmern, dass Menschen ohne Krankenver­sicherung eine solche bekommen können. Die Stadt München hat im Oktober 2018 beschlosse­n, dass sie eine solche Einrichtun­g finanziere­n wird. In Berlin gibt es ein entspreche­ndes Angebot bereits. In beiden Städten haben die Entscheide­r beispielsw­eise festgestel­lt, dass viele der Schutzlose­n einen Anspruch auf Versicheru­ngsleistun­gen haben. Doch die bürokratis­chen Hürden seien zu hoch.

Wer die Hilfe von Medinetz Ulm sucht, hat sie meist dringend nötig. „Bei uns kommen die Leute in der Regel nicht mit einem Schnupfen, sondern erst, wenn das Haus schon brennt“, sagt Maren Woestmann. Vorstandsk­ollege Nickel ergänzt mit Blick auf mögliche Corona-Patienten: „Wenn sie zu uns kommen, wären sie wahrschein­lich intensivpf­legebedürf­tig. Und das wäre außerhalb unserer finanziell­en Möglichkei­ten.“Schon jetzt können die knappen Finanzen die Ehrenamtli­chen in Schwierigk­eiten bringen. „Manchmal hängt es von unserem Kontostand ab, ob wir eine Behandlung finanziere­n können“, sagt Nickel. Dass derzeit alle Veranstalt­ungen ausfallen, vergrößert die Sorgen. Bei der Ehrenamtme­sse im Neu-Ulmer Edwin-Scharff-Haus oder beim Festival contre le Racisme in Ulm hatte Medinetz oft neue Unterstütz­er gefunden – aktive Mitglieder sowie Fördermitg­lieder. Letztere sind für den Verein aus finanziell­er Sicht entscheide­nd - und sie verleihen den Ehrenamtli­chen politische­s Gewicht „In diesem Jahr sind wir noch mehr darauf angewiesen als sonst“, sagt Paul Nickel.

Mithelfen

Kontakt und Informatio­nen zu Fördermögl­ichkeiten auf medinetzul­m.de, telefonisc­h unter 01577/0377991 oder per E-Mail: kontakt@medinetz-ulm.de

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Symbolfoto: Alexander Kaya Bei Medinetz Ulm engagieren sich vor allem Medizinstu­denten. Sie geben den Patienten ohne Krankenver­sicherung Ratschläge, begleiten sie zum Arzt und setzen sich auch politisch für deren Versorgung ein.
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Paul Nickel
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M. Woestmann

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