Neu-Ulmer Zeitung

Aus der Schockstar­re in den Kampfmodus

- VON BERNHARD JUNGINGER

Leitartike­l Der radikale Lockdown hat Corona gebremst, doch die Nebenwirku­ngen sind heftig. Jetzt muss das öffentlich­e Leben wieder anlaufen, wo immer es vertretbar ist

Für den weiteren Kampf gegen die Pandemie und ihre Folgen kommt dieser Woche entscheide­nde Bedeutung zu. An vielen Schulen beginnt zumindest für manche Klassen wieder der Lehrbetrie­b. Und am Mittwoch beraten Bund und Länder über weitere Lockerunge­n, die immer mehr Bürger immer vehementer fordern.

Der „Lockdown“, das weitgehend­e Zurückfahr­en des öffentlich­en Lebens, hat dazu geführt, dass die Infektions­kurve flach geblieben ist. Bilder wie aus Norditalie­n und New York, mit Lastwagen voller Leichen, sind uns erspart geblieben. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde das Gesundheit­ssystem in Deutschlan­d nicht überlastet. Doch die ökonomisch­en und sozialen Folgen sind immens. Berufliche Existenzen werden zerstört, Wohlstand vernichtet, Perspektiv­en,

ja Lebensträu­me haben sich in Luft aufgelöst. Firmen, die kerngesund waren, stehen vor dem Aus. Ob die Milliarden­hilfen für eine schnelle Erholung der Wirtschaft reichen, ist fraglich. Was es mit Kindern macht, wenn sie wochenlang keinen Kontakt zu Gleichaltr­igen haben dürfen, ist nicht einmal im Ansatz erforscht. Schüler aus sozial schwachen Familien drohen abgehängt zu werden. Häusliche Gewalt steigt. Schwere Leiden bleiben unbehandel­t, weil sich niemand mehr ins Krankenhau­s traut. Mit jeder Woche, die der Lockdown anhält, steigen die Schäden.

Deshalb muss die Begründung jeder einzelnen Maßnahme stichhalti­ger werden. Denn klar ist: Die Bedrohung hat sich nicht in Luft aufgelöst. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass spätestens der Sommer das Virus vertreibt. Lockerunge­n ohne Maß und Ziel wären unverantwo­rtlich. Eine zweite Corona-Welle könnte alle bisherigen Erfolge zunichtema­chen – auch wenn das Gesundheit­ssystem inzwischen besser gerüstet ist.

Nach dem Corona-Stillstand muss jetzt der Corona-Betrieb beginnen, eine Art Normalbetr­ieb in einer Zeit der Not, zwangsläuf­ig verbunden mit Härten und auch mancher Ungerechti­gkeit. Auf die selbst verordnete Schockstar­re kann nur eine Phase des aktiven Kampfes gegen die Pandemie folgen. Mit beherzten Vorstößen, aber auch mit Rückzügen, wo nötig. Wirtschaft, Bildung und Kultur dem

Siechtum preiszugeb­en, so lange, bis irgendwann ein Corona-Impfstoff gefunden wird – das wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Nirgendwo gibt es Patentreze­pte im Umgang mit einer solchen Krise. Auch im Umschalten von kurzfristi­gen Maßnahmen auf mittelund langfristi­ge Prozeduren muss Deutschlan­d durch behutsames Herantaste­n seinen eigenen Weg finden. Gute Antworten ergeben sich nur auf vernünftig­e Fragen.

Wenn etwa die Frage ist, was getan werden muss, um jede Infektions­gefahr an Schulen auszuschli­eßen, kann die Antwort nur sein: die Schulen geschlosse­n halten. Was schlichtwe­g nicht länger als ein paar Monate durchzuhal­ten ist. Deshalb muss die Frage lauten: Was muss getan werden, um das Infektions­risiko im Schulbetri­eb gering zu halten? Dann können wir über die Sinnhaftig­keit einzelner Hygieneund Schutzmaßn­ahmen reden.

Wie sich der Corona-Modus für viele Geschäfte und Betriebe schon eingespiel­t hat, so müssen auch in anderen Lebensbere­ichen gangbare Wege gefunden werden. Urlaub, der Besuch von Gaststätte­n oder Kulturvera­nstaltunge­n – wie ist das möglich, ohne dass die Infektions­raten wieder explodiere­n? Eine enge Kellerdisc­o ist dabei natürlich anders zu bewerten als ein weitläufig­er Biergarten. Hygienereg­eln, Abstandsge­bote und Gesichtsma­sken werden weiter nötig sein – als lästige, aber notwendige Begleiter auf dem Weg heraus aus dem finsteren Corona-Tal, das noch lange nicht durchschri­tten ist.

Lockerunge­n ohne Maß und Ziel sind unverantwo­rtlich

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Zeichnung: Paolo Calleri Sportfiebe­r.
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