Aus der Schockstarre in den Kampfmodus
Leitartikel Der radikale Lockdown hat Corona gebremst, doch die Nebenwirkungen sind heftig. Jetzt muss das öffentliche Leben wieder anlaufen, wo immer es vertretbar ist
Für den weiteren Kampf gegen die Pandemie und ihre Folgen kommt dieser Woche entscheidende Bedeutung zu. An vielen Schulen beginnt zumindest für manche Klassen wieder der Lehrbetrieb. Und am Mittwoch beraten Bund und Länder über weitere Lockerungen, die immer mehr Bürger immer vehementer fordern.
Der „Lockdown“, das weitgehende Zurückfahren des öffentlichen Lebens, hat dazu geführt, dass die Infektionskurve flach geblieben ist. Bilder wie aus Norditalien und New York, mit Lastwagen voller Leichen, sind uns erspart geblieben. Im Gegensatz zu anderen Ländern wurde das Gesundheitssystem in Deutschland nicht überlastet. Doch die ökonomischen und sozialen Folgen sind immens. Berufliche Existenzen werden zerstört, Wohlstand vernichtet, Perspektiven,
ja Lebensträume haben sich in Luft aufgelöst. Firmen, die kerngesund waren, stehen vor dem Aus. Ob die Milliardenhilfen für eine schnelle Erholung der Wirtschaft reichen, ist fraglich. Was es mit Kindern macht, wenn sie wochenlang keinen Kontakt zu Gleichaltrigen haben dürfen, ist nicht einmal im Ansatz erforscht. Schüler aus sozial schwachen Familien drohen abgehängt zu werden. Häusliche Gewalt steigt. Schwere Leiden bleiben unbehandelt, weil sich niemand mehr ins Krankenhaus traut. Mit jeder Woche, die der Lockdown anhält, steigen die Schäden.
Deshalb muss die Begründung jeder einzelnen Maßnahme stichhaltiger werden. Denn klar ist: Die Bedrohung hat sich nicht in Luft aufgelöst. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass spätestens der Sommer das Virus vertreibt. Lockerungen ohne Maß und Ziel wären unverantwortlich. Eine zweite Corona-Welle könnte alle bisherigen Erfolge zunichtemachen – auch wenn das Gesundheitssystem inzwischen besser gerüstet ist.
Nach dem Corona-Stillstand muss jetzt der Corona-Betrieb beginnen, eine Art Normalbetrieb in einer Zeit der Not, zwangsläufig verbunden mit Härten und auch mancher Ungerechtigkeit. Auf die selbst verordnete Schockstarre kann nur eine Phase des aktiven Kampfes gegen die Pandemie folgen. Mit beherzten Vorstößen, aber auch mit Rückzügen, wo nötig. Wirtschaft, Bildung und Kultur dem
Siechtum preiszugeben, so lange, bis irgendwann ein Corona-Impfstoff gefunden wird – das wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Nirgendwo gibt es Patentrezepte im Umgang mit einer solchen Krise. Auch im Umschalten von kurzfristigen Maßnahmen auf mittelund langfristige Prozeduren muss Deutschland durch behutsames Herantasten seinen eigenen Weg finden. Gute Antworten ergeben sich nur auf vernünftige Fragen.
Wenn etwa die Frage ist, was getan werden muss, um jede Infektionsgefahr an Schulen auszuschließen, kann die Antwort nur sein: die Schulen geschlossen halten. Was schlichtweg nicht länger als ein paar Monate durchzuhalten ist. Deshalb muss die Frage lauten: Was muss getan werden, um das Infektionsrisiko im Schulbetrieb gering zu halten? Dann können wir über die Sinnhaftigkeit einzelner Hygieneund Schutzmaßnahmen reden.
Wie sich der Corona-Modus für viele Geschäfte und Betriebe schon eingespielt hat, so müssen auch in anderen Lebensbereichen gangbare Wege gefunden werden. Urlaub, der Besuch von Gaststätten oder Kulturveranstaltungen – wie ist das möglich, ohne dass die Infektionsraten wieder explodieren? Eine enge Kellerdisco ist dabei natürlich anders zu bewerten als ein weitläufiger Biergarten. Hygieneregeln, Abstandsgebote und Gesichtsmasken werden weiter nötig sein – als lästige, aber notwendige Begleiter auf dem Weg heraus aus dem finsteren Corona-Tal, das noch lange nicht durchschritten ist.
Lockerungen ohne Maß und Ziel sind unverantwortlich