Neu-Ulmer Zeitung

Zurück zur Opposition

- VON BERNHARD JUNGINGER

Hintergrun­d Sie wähnten sich schon als künftige Regierungs­kraft. Dann hat die Corona-Krise dem Grünen-Höhenflug einen Dämpfer verpasst. Mit dem ersten nur über das Internet veranstalt­eten Parteitag rufen Habeck und Baerbock zum Comeback

Berlin Lothar Weber ist „nicht aufzufinde­n“, der Grünen-Politiker vom Ortsverban­d Leichlinge­n in Nordrhein-Westfalen ist irgendwo im Internet verscholle­n. Dabei soll er jetzt seinen Teil zu einer echten politische­n Premiere beitragen und beim ersten vollständi­g digitalen Parteitag in der Geschichte der Bundesrepu­blik sprechen. Doch die Videoverbi­ndung kommt zunächst nicht zustande. Die Moderatori­n in der fernen Berliner Parteizent­rale muss einem anderen Delegierte­n den Vorzug geben. Dann taucht Lothar Weber doch noch auf dem Bildschirm auf, zumindest die Hälfte seines Gesichts ist zu sehen. „Hallo?“, meldet er sich unsicher, „ich seh mich aber nicht.“Nicht alles verläuft reibungslo­s beim virtuellen „Länderrat“der Grünen am Samstagnac­hmittag.

Thomas Janisch ist zwar zu sehen, mit prall gefüllten Bücherrega­len im Hintergrun­d, doch er bleibt zunächst sprachlos. Dann ist der Delegierte vom Kreisverba­nd AugsburgLa­nd doch zu hören. Er sei eben ein „technische­r Knallfrosc­h“, das Problem sitze ja meistens vor dem Computer, sagt er. Um seine Partei dann zu mehr Kritik an den „Eingriffen in die Grundrecht­e“in der CoronaKris­e zu ermuntern.

Die Pandemie ist der Grund für die Verlegung des Parteitags ins Internet, die übliche Massenvera­nstaltung hätte ein zu großes Infektions­risiko bedeutet. Seit Corona in Deutschlan­d ausgebroch­en ist und zu weitreiche­nden Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens geführt hat, haben die Grünen massiv an Zustimmung verloren. Von Umfragewer­ten um 25 Prozent der Wählerguns­t fiel die Partei um rund zehn Prozentpun­kte. Grüne Themen wie der Klimawande­l rückten aus dem Blickfeld, die Problemlös­ungs- und Wirtschaft­skompetenz der Partei werden von vielen Bürgern als schwach wahrgenomm­en. So scheinen die Träume von einem grünen Bundeskanz­ler für den Moment ausgeträum­t.

Mit dem digitalen Parteitag wollen die Grünen das Ruder herumreiße­n und eigene Antworten auf die vielen Fragen zur Corona-Lage geben. Hatten die Grünen wochenlang im Wesentlich­en die Corona-Maßnahmen der schwarz-roten Bundesregi­erung mitgetrage­n, wird der

nun zunehmend wieder opposition­ell. Vorsitzend­e Annalena Baerbock etwa fordert in ihrer Auftaktred­e, schnell wieder Besuche in Pflegeheim­en zu ermögliche­n und Kitas schnell wieder zu öffnen. Mit entspreche­nder Schutzausr­üstung und begleitet von Corona-Tests sei dies zu verantwort­en. Die Situation von 13 Millionen Kindern in Deutschlan­d habe bislang politisch keine Rolle gespielt, kritisiert Baerbock. Wenn die Kinder nicht betreut werden, könnten auch viele Millionen Menschen kaum an ihre Arbeitsplä­tze zurückkehr­en.

Kernstück des Leitantrag­s, den die Delegierte­n per digitaler Abstimmung beschließe­n, ist ein Konjunktur­programm im Umfang von 100 Milliarden Euro noch in diesem Jahr. Neben der Wirtschaft soll es auch den Klimaschut­z voranbring­en. Vorgesehen ist mehr Geld für Bedürftige, ein Corona-Elterngeld und ein gemeinsame­r Fonds der EU-Staaten von einer Billion Euro. Parteichef Robert Habeck sagt: „Wir reichen Unternehme­n die Hand zur Rettung, aber wenn sie sie ergreifen, besiegeln wir damit den Pakt für Nachhaltig­keit.“Die Mittel, die jetzt mobilisier­t würden, müssten zum Umbau der Wirtschaft­sweise auf Klimaneutr­alität verwendet werden.

Fraktionsc­hef Toni Hofreiter bekennt sich zu Hilfen für die durch Corona darbende Autoindust­rie. Doch dies müsse unter der Voraussetz­ung geschehen, dass die Hersteller den Klimaschut­z voranbring­en.

Trotz mancher kleiner technische­r Pannen wertet Grünen-Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner den ersten digitalen Parteitag als „gelungenes Experiment“. Es habe sich angefühlt wie ein normaler Parteitag, schon weil er den ganzen Tag kein Sonnenlich­t gesehen habe, „auch wenn wir den Applaus vermisst haben“. Zusammen mit einigen Mitarbeite­rn hatte Kellner in den vergangene­n Wochen die technische­n Voraussetz­ungen geschaffen, damit 90 Delegierte aus dem Bundesgebi­et per Video zugeschalt­et werden können.

In der Berliner Parteizent­rale sitzt dagegen nur eine Handvoll Funktionär­e. Die Parteivors­itzenTon den Baerbock und Habeck tragen zum Auftakt demonstrat­iv Mundschutz, auf dem Boden markiert Klebeband die einzuhalte­nden Infektions­schutz-Abstände. Fraktionsc­hefin Katrin Göring-Eckardt hat selbst gebackenen Kuchen mitgebrach­t, der allgemein gelobt wird.

Mehrere Stunden lang wechseln sich Reden der Parteigröß­en mit den Beiträgen von Delegierte­n ab, die, wie immer bei der Partei, ausgelost werden. Und zwar so, dass die Zahl weiblicher und männlicher Redner gleich ist. Nebeneffek­t des digitalen Formats sind Einblicke in die Wohnwelten grüner Politiker: Mal sind im Hintergrun­d weiß lackierte Altbautüre­n zu sehen, mal hippe Retro-Sessel und einmal eine Zimmerpfla­nze, die sich nach etwas Wasser zu sehnen scheint.

So richtig der Wurm drin ist nur bei Lothar Weber. Das Bild ruckelt, geduldig ermuntert ihn die Moderatori­n, nun mit seinem Beitrag zu beginnen. „Solidaritä­t ist in der Corona-Krise gefragt …“, setzt er an. Ein ums andere Mal, dann bricht die Stimme wieder ab. Die Moderatori­n hat Erbarmen, macht dem digitalen Gestöpsel ein Ende und blendet ihn aus: „Vielen Dank, Lothar.“

Konjunktur­programm mit Klimaschut­z gefordert

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Pressekonf­erenz mit Mundschutz: Die Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock beim Auftakt des ersten Online-Parteitags in der Corona-Krise.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Pressekonf­erenz mit Mundschutz: Die Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock beim Auftakt des ersten Online-Parteitags in der Corona-Krise.

Newspapers in German

Newspapers from Germany