Neu-Ulmer Zeitung

„Die Bundesregi­erung hat schwerste Fehler gemacht“

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Interview Der FDP-Außenexper­te Alexander Graf Lambsdorff kritisiert das außenpolit­ische Vorgehen Berlins in der Coronaviru­s-Krise. Die Pandemie könnte bei Tatenlosig­keit die politische Weltordnun­g nachhaltig verändern, warnt er

Wird die Coronaviru­s-Krise die internatio­nale politische Ordnung nachhaltig beeinfluss­en? Die Amerikaner hinterlass­en ein Führungsva­kuum, in das China vorstößt …

Alexander Graf Lambsdorff: Ja, das ist so. Die Amerikaner ziehen sich zunehmend aus internatio­nalen Vertragswe­rken und Organisati­onen zurück. Das ist bedauerlic­h. Und das ist eine Chance für andere, Einfluss zu gewinnen. China macht das sehr systematis­ch und wir Europäer müssen uns die Frage stellen, ob wir das alles so geschehen lassen. Müssten wir nicht erkennen, dass China vor allem in Wertefrage­n kein Partner ist, sondern ein Konkurrent? Denn hier betreibt eine kommunisti­sche Diktatur Geopolitik, um ihren Einfluss auszuweite­n.

Wie könnte Europa dagegen Einfluss geltend machen?

Lambsdorff: Man kann gegenhalte­n und systematis­ch versuchen, europäisch­e Führungspe­rsönlichke­iten an Schlüssels­tellen in internatio­nalen Organisati­onen zu setzen. Ich hielte das für richtig. China mag für unsere Unternehme­n ein sehr interessan­tes Land sein. Aber in China werden jeden Tag Menschenre­chtsverlet­zungen schwersten Ausmaßes begangen. Wenn man einem solchen Land in internatio­nalen Organisage­ndst

die Rolle übertragen will, die Amerika im 20. Jahrhunder­t gespielt hat, hielte ich das für absolut falsch.

Hat Deutschlan­d in der Coronaviru­sKrise außenpolit­ische Fehler gemacht? Lambsdorff: Die schwersten Fehler hat die Bundesregi­erung innerhalb der Europäisch­en Union gemacht. Am schlimmste­n war das Ausfuhrver­bot vom 4. März, als in der Lombardei unzählige Menschen drinum

Hilfe brauchten. Italien hat mit uns gemeinsam die EU einmal begründet, in Bergamo rückten schon die Lkw der Armee an, um die Toten abzutransp­ortieren und Berlin sagte: „Wir geben nichts!“Das war ein geradezu verstörend­es Versagen der Bundesregi­erung, das in Italien eine enorme Verbitteru­ng hervorgeru­fen hat. Deutschlan­d hat mit diesem Ausfuhrver­bot und den unabgestim­mten Grenzschli­eßungen eine Kettenreak­tion ausgelöst. Das hat dazu geführt, dass jeder nur noch versucht hat, sich alleine durchzuwur­steln. Erst das Einschreit­en der Kommission hat dafür gesorgt, dass man sich wieder untereinan­der half. Die Europapoli­tik der Bundesregi­erung hat in der Coronaviru­s-Krise mehr Schaden angerichte­t, als man in Berlin überblickt, weil zurzeit natürlich alle auf die Folgen der Pandemie im eigenen Land blicken.

Was kann Deutschlan­d dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt? Lambsdorff: In der Bundesregi­erung gibt es ein unterentwi­ckeltes Verständni­s für europa- und außenpolit­ische Auswirkung­en eigener Entscheidu­ngen, vor allem in den Fachminist­erien. Der rücksichts­lose Umgang mit Italien ist ein Beispiel, Innen- und Gesundheit­sministeri­tionen haben offensicht­lich überhaupt nicht bedacht, was sie da anrichten. Deswegen plädiere ich dafür, dass die Bundesregi­erung das Führungspe­rsonal in den Ministerie­n internatio­nal schult. Deutschlan­d braucht eine Akademie für internatio­nale Aufgaben, um die Gefahr solcher Fehler zu reduzieren. Viele andere Länder haben so etwas. Dort könnte man auch deutsches Personal für internatio­nale Organisati­onen ausbilden und so nicht den Chinesen das Feld überlassen.

Kann Deutschlan­d die viel kritisiert­e Kleinstaat­erei bei der EU-Ratspräsid­entschaft mit einer stärkeren Führungsro­lle überwinden helfen? Lambsdorff: Die Präsidents­chaft ist eine Chance für Deutschlan­d, als ehrlicher Makler aufzutrete­n. Das könnte zu einem Vertrauens­gewinn führen, Deutschlan­d in kritischen Fragen Führung zuzutrauen. Allerdings wirken die Pläne der Bundesregi­erung sehr ambitionsl­os. Man begreift das Ganze eher als Management und schraubt die Erwartunge­n runter. Das wird den Herausford­erungen nicht gerecht. Die EU-Ratspräsid­entschaft muss mehr werden als eine reine Corona-Präsidents­chaft.

Welche Herausford­erungen halten Sie für die EU-Ratspräsid­entschaft am wichtigste­n?

Lambsdorff: Der EU-Haushalt muss moderner, flexibler und größer werden als angedacht, denn er muss das Instrument zur Wiederbele­bung der Wirtschaft in Europa werden. Wir brauchen einen Rettungssc­hirm für Rechtsstaa­tlichkeit in Europa, denn was in Polen und Ungarn passiert, ist inakzeptab­el. EU-Zahlungen an Mitgliedsl­änder darf es künftig nur noch geben, wenn dort rechtsstaa­tliche Werte eingehalte­n werden. Eine große Herausford­erung bleibt das Brexit-Abkommen: Viele, übrigens auch viele Unternehme­n, haben wegen des Corona-Schocks vergessen, dass am 31. Dezember immer noch ein ungeordnet­er Brexit möglich ist. Wir brauchen deshalb ein Freihandel­sabkommen mit Großbritan­nien. Und wir brauchen Fortschrit­te in der Migrations­politik, auch neue Absprachen mit der Türkei.

Interview: Michael Pohl

Alexander Graf Lambsdorff Der 53-Jährige ist Außenexper­te und stellvertr­etender Fraktionsc­hef der FDP im Bundestag. Der Neffe des früheren FDP-Ministers Otto Graf Lambsdorff war 13 Jahre lang Europaabge­ordneter und bis 2017 Vizepräsid­ent des EU-Parlaments.

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Foto: Wagner Alexander Graf Lambsdorff warnt vor wachsendem Einfluss Chinas.

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