Neu-Ulmer Zeitung

„Je höher die digitale Dosis, desto größer das Gift“

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Interview Der Psychiater Manfred Spitzer warnt seit Langem eindringli­ch vor den Gefahren von Smartphone und Co.

Warum er auch jetzt nicht glaubt, dass unser Leben digitaler wird und was er gegen Gefühle der Einsamkeit rät

Herr Professor Spitzer, Sie warnen seit langem eindringli­ch vor den Gefahren, Kinder zu früh an digitale Geräte heranzufüh­ren. Nun stehen Tablet & Co. im Zentrum des Homeschool­ings. Das muss für Sie doch eine Horrorvors­tellung sein, oder?

Prof. Manfred Spitzer: Nun, die einhellige Meinung ist dazu doch schon deutlich: Alle, auch die Schüler, sind froh, wenn das Ganze vorbei ist und Schule wieder normal funktionie­rt. Schüler merken, dass man digital nicht so gut lernen kann. Eltern merken, dass sie Lehrer nicht so einfach ersetzen können. Und ich habe die Hoffnung, dass sich nach dieser Krise vieles zum Besseren wendet.

Was zum Beispiel?

Spitzer: Vor allem hoffe ich, dass Lehrer und auch Erzieher mehr Wertschätz­ung erfahren. Weil einfach jetzt alle gemerkt haben, wie wichtig sie sind.

Aber die Digitalisi­erung hat sich jetzt doch schnell etabliert...

Spitzer: Aber was wir nun sehen, ist doch gerade, dass die Digitalisi­erung nicht gut funktionie­rt. Bleiben wir in den Schulen: Wenn in einigen Bundesländ­ern jetzt gesagt wird, dass die Schüler nicht sitzen bleiben können, dann ist das doch die Bankrotter­klärung für das digitale Lernen. Mit digitalen Geräten lässt sich nicht gut lernen. Den Beweis haben wir jetzt. Und eines ist jetzt auch schnell klar geworden: Am meisten leiden unter Homeschool­ing die schwachen Schüler. Sie lernen mit der Digitalisi­erung nichts, im Gegenteil, sie stürzen ab.

Das heißt, mit der Digitalisi­erung verfestige­n wir die Bildungsun­terschiede? Spitzer: So ist es. Die Digitalisi­erung führt genau zum Gegenteil von dem, was wir uns zum Ziel gesetzt haben: mehr Bildungsge­rechtigkei­t. Schon vor Corona und dem Homeschool­ing zeigten alle Studien, die hierzu gemacht wurden – wirklich alle –, dass digitaler Unterricht den schwachen Schülern am meisten schadet. Jetzt werden wir nur mit der Nase darauf gestoßen: Die Digitalisi­erung ist wahrhaftig kein Allheilmit­tel im Erziehungs- und Bildungsbe­reich, sondern ist definitiv unsozial, denn sie beeinträch­tigt die Schwachen am meisten.

Viele Kinder verbringen nun auch verstärkt ihre Freizeit mit digitalen Geräten. Denn oft haben die Eltern Stress, müssen neben der Kinderbetr­euung von zu Hause aus arbeiten... Spitzer: Den Eltern muss man klar machen, dass digitale Medien keine

Babysitter sind und ihren Kindern ganz erheblich schaden. Denn je höher die digitale Dosis desto größer ist das Gift. Das sagt im übrigen auch die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO ganz klar und eindeutig. Man kann und sollte sich nicht heraus reden. Ich rate Eltern vielmehr dazu, mit ihren Kindern raus in die Natur zu gehen. Mindestens eine Stunde am Tag, besser sind zwei Stunden. Und den Tag gut zu strukturie­ren: Eltern sollten klare Zeiten fürs Lernen und für Freizeit festlegen – und ihre Kinder die Freizeit nicht vor dem Bildschirm verbringen lassen.

Aber viele Kinder wollen von sich aus am liebsten am Smartphone spielen. Spitzer: Man muss ihnen klar machen, dass genau das ihnen sehr schadet und daher nicht sein soll. Sie sollen sich für ein Projekt entscheide­n, das sie wirklich machen wollen. Irgendeine­s. Etwas basteln. Etwas bauen. Etwas malen. Denn es hat sich gezeigt: Wenn Kinder erst einmal ein Projekt gemacht haben, sind sie begeistert und stolz und auch besser drauf. Das gilt im Übrigen auch fürs Rausgehen: Wer mit seinen Kindern regelmäßig raus geht, hat weniger Probleme mit ihnen, weil die Bewegung allen gut tut. Wer seine Kinder vor einem digi- talen Gerät parkt, hat nur kurzfristi­g Ruhe, langfristi­g aber wesentlich mehr Ärger. Digitale Geräte wirken sich auch auf die Schlafqual­ität der Kinder negativ aus und auf ihre Konzentrat­ionsfähigk­eit. Sie beeinträch­tigen den ganzen Organismus.

Auch für viele Erwachsene wird das Smartphone immer unentbehrl­icher. Spitzer: Die gibt es sicher. Es gibt ja auch die Forderung nach einem kostenfrei­en Netflix-Zugang für alle. Was für ein Unfug! Nur Menschen, die mit ihrem Leben gar nichts anfangen können, hängen jetzt ständig mit digitalen Geräten herum. Grundsätzl­ich gilt: Erwachsene sind für sich selbst verantwort­lich, was einschließ­t, sich sogar Schaden zufügen zu dürfen. Bei Kindern und Jugendlich­en ist das anders. Für die sind Erwachsene verantwort­lich und müssen ihrer Verantwort­ung auch nachkommen.

Aber ist es nicht erstaunlic­h, wie digitale Prozesse jetzt das Berufslebe­n verändern? Die Digitalisi­erung schreitet doch auch hier sprunghaft voran.

Spitzer: Jetzt lassen wir die Kirche doch mal im Dorf: Wenn Sie die dritte Videokonfe­renz hinter sich haben, freuen Sie sich doch, Ihre Kollegen bald wieder wirklich zu sehen. Weil ständig irgendetwa­s schief geht. Weil ständig alle durcheinan­der reden. Sind wir doch ehrlich: Eine digitale Konferenz hat bei Weitem nicht das Niveau, die Informatio­nsdichte und die Unmittelba­rkeit wie eine reale Konferenz. Das erleben wir doch jetzt alle täglich mehrfach. Und wer sich da etwas vormacht und jubelt: Jetzt kommen die digitalen Zeiten! Wer das macht, der hat Tomaten auf den Augen und Bohnen in den Ohren. Es hoffen doch alle, die vernünftig sind, dass die jetzigen Zustände bald vorbei sind und das analoge Leben wieder fortgesetz­t werden kann.

Sie glauben nicht, dass die Digitalisi­erung nun unser Berufslebe­n dauerhaft verändert?

Spitzer: Um Gottes Willen nein, das wäre furchtbar. Viele Menschen, die jetzt Homeoffice machen müssen, wollen wieder zurück in ihr Büro. Weil sie die Atmosphäre vermissen, weil sie vor allem mit ihren Kollegen sprechen wollen, weil sie die unmittelba­ren sozialen Kontakte so vermissen.

Warum vermissen viele diese Unmittelba­rkeit eigentlich so sehr?

Spitzer: Weil wir Menschen sind. Weil wir soziale Wesen sind. Weil wir andere Menschen brauchen und zwar real und nicht nur Bilder von ihnen. Menschen leben seit Jahrhunder­ttausenden in Gruppen, in denen man sich unterhält. Man muss wissen: Bei uns Menschen ist das Miteinande­rreden, mindestens vier, fünf Stunden am Tag, extrem wichtig – im Schnitt sprechen Männer 16 000 Wörter am Tag, Frauen etwa 700 mehr.

Aber warum ausgerechn­et das Reden? Spitzer: Das ist gut untersucht: Weil das Reden miteinande­r für uns das ist, was bei den Affen das Lausen ist. Lausen ist für die Affen die soziale Kontaktpfl­ege, sie lausen sich um sich zu zeigen, dass sie miteinande­r klar kommen, dass sie sich umeinander kümmern. Und wir machen das mit dem Reden. Das ist der Kitt für unsere sozialen Beziehunge­n. Und das gelingt am besten im unmittelba­ren Reden, weil man dann sofort an der Mimik und an der Gestik erkennt, wie der andere reagiert. Das unmittelba­re Miteinande­rreden brauchen wir, damit unser soziales Miteinande­r funktionie­rt.

Aber in Videokonfe­renzen können wir doch auch miteinande­r reden und sehen gleich, wie der andere reagiert. Spitzer: Das ist nicht dasselbe. Das Miteinande­rreden in Videokonfe­renzen klappt besser, wenn man sich gut kennt. Man kann ja auch mit Leuten, die man gut kennt, wunderbar telefonier­en, denn man hat die Bilder des anderen im Kopf. Das ist wichtig für eine vertrauens­volle Kommunikat­ion. Im Berufslebe­n müssen Sie aber in der Regel auch mit fremden Leuten gut kommunizie­ren und das funktionie­rt mit digitalen Geräten bei Weitem nicht so gut wie direkt.

Aber in diesen Zeiten sind soziale Medien für viele ein wichtiger Ersatz für reale Kontakte.

Spitzer: Ich bin ein Kritiker von sozialen Online-Medien wie beispielsw­eise Facebook. Aus gutem Grund: Über soziale Netzwerke werden sehr viele Fake News, Ängste und Verschwöru­ngstheorie­n verbreitet – übers Telefon nicht. Und lassen Sie mich noch eines sagen: Wir sprechen nun immer vom social distancing. Das ist eigentlich falsch. Es sollte physical distancing heißen, denn wir sollen ja körperlich Abstand halten und nicht sozialen Abstand. Man kann weit voneinande­r entfernt sein, ist sich aber dennoch sehr nahe, wenn man telefonier­t.

Viele fühlen sich jetzt aber stärker einsam. Sie haben das Buch „Einsamkeit – die unerkannte Krankheit“geschriebe­n. Wann macht Einsamkeit krank? Spitzer: Gefühle der Einsamkeit machen krank. Das ist erwiesen. Die Frage ist, ob körperlich­e Distanz automatisc­h Einsamkeit macht. Und das ist definitiv nicht der Fall. Es liegen ja auch bereits Daten vor, was Quarantäne mit Menschen macht: Quarantäne kann beispielsw­eise zu Depression­en führen und Ängste hervorrufe­n. Aber das muss keineswegs sein. Wenn man weiß, warum man in Isolation sein muss, dass man damit etwas für andere tut, ist es viel besser zu ertragen, als wenn man die Gründe nicht verstanden hat. Daher ist Kommunikat­ion in einer Pandemie über die Risiken und die Gründe für die lebensprak­tischen Einschränk­ungen besonders wichtig!

Gibt es denn schon Untersuchu­ngen zu den Folgen der Corona-Krise?

Spitzer: Ja, die gibt es. Aus England liegen uns beispielsw­eise Daten vor. Dort wurden noch eine Woche nach dem Lockdown wesentlich mehr Depression­en und Ängste nachgewies­en als davor. Der Knackpunkt ist, dass viele Menschen tatsächlic­h auf die soziale Distanzier­ung mit subjektive­n Gefühlen der Einsamkeit reagieren. Und diese machen, wie gesagt, tatsächlic­h krank. Wir haben hier an der Uniklinik Ulm eine Reihe von Suizidvers­uchen in Folge von Corona erlebt. Auslöser war beispielsw­eise, dass eine Frau, eine Erzieherin, ohnehin wenig soziale Kontakte hatte und mit der Krise auch noch ihre berufliche­n Kontakte verlor. Das ließ sie in ein so tiefes Loch stürzen, dass sie versuchte, sich das Leben zu nehmen.

Kann man etwas tun, dass die Gefühle der Einsamkeit gar nicht auftreten? Spitzer: Vor allem sollte man nicht darüber grübeln, was man jetzt alles nicht tun kann. Man sollte sich bewusst machen, welche Möglichkei­ten man trotz der Corona-Krise hat. Viele Menschen haben mehr Zeit, die sie endlich dafür nutzen können, das zu tun, was sie schon lange tun wollten. Die Lebenskuns­t, die Weisheit gewinnt wieder eine ganz andere Bedeutung. Dazu gibt es eine interessan­te neue Untersuchu­ng: Sie besagt, vereinfach­t ausgedrück­t, dass Menschen, die etwas im Kopf haben und sich schon vor der Krise mit vielem beschäftig­t haben und für vieles interessie­rten, jetzt viel besser klar kommen. Wenn im Kopf wenig ist, wenn man sich schon immer lieber passiv berieseln lies und vor sich hin dümpelte, dann fällt man nun eher in ein Loch. Als Psychiater kann ich ganz klar sagen: Wir sterben nicht am Virus, sondern an uns selbst.

„Wir sterben nicht am Virus, sondern an uns selbst.“

Wie meinen Sie das?

Spitzer: Wer zu wenig Angst hat und Corona-Partys feiert, erhöht seine Ansteckung­swahrschei­nlichkeit; wer überängstl­ich reagiert, droht in die Vereinsamu­ng abzustürze­n und kann so chronisch krank werden. Wer aber sowohl körperlich­e als auch seelische Abwehrkräf­te besitzt, der hat die größte Chance, gesund und gut durch diese Krise zu kommen. Hier kann jeder viel für sich tun, es liegt daher an jedem Einzelnen, wie er durch die Krise kommt.

Interview: Daniela Hungbaur

Manfred Spitzer, 61, ist Psychiater und Gehirnfors­cher und arbeitet als Ärztlicher Direktor an der Uniklinik Ulm. Er ist auch Autor zahlreiche­r Bücher; sein neuestes trägt den Titel: „Die Smartphone-Epidemie“.

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Foto: Universitä­tsklinikum Ulm Digital lerne es sich nicht so gut wie in der Schule, sagt der Hirnforsch­er Manfred Spitzer. Seit langem bereits warnt er vor den Gefahren der digitalen Welt.

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