Vom wunderlich Werden
In Zeiten wie diesen kann es passieren, dass man Merkwürdigkeiten an sich zu beobachten beginnt. Da sich das Leben im Shutdown samt Homeoffice fast ausschließlich daheim abspielt, bekommt man mehr von dem mit, was die Menschen um einen herum so tun. Sprich, die lieben Nachbarn. Sonst sind die doch eher Bei-Gestalten des Alltags, von Zaun- und BalkonGesprächen flüchtig bekannt. Nun aber werden sie – zwangsläufig – um einiges interessanter. Wo Familie und Freunde einem nur noch als gepixelte Zerrbilder ihrer selbst auf Bildschirmen erscheinen. Die Anwohner drum herum sind, wenn man das virologisch-bedenklich so sagen darf, irgendwie greifbarer. Wo sonst, vom Bürofenster aus, der immerschöne Turm der Augsburger Abfallverwertungsanlage den schweifenden Gedanken Einhalt gebietet, den Blick umgehend zurück zum Schreibtisch lenkt, ist nun dieses immer neugieriger machende Leben der vielköpfigen Ersatz-Verwandtschaft zu beobachten. Ob sie das will oder nicht. Womit wir beim wunderlicher werdenden Selbst wären. Nicht, dass man ein vigilantes Wesen hätte, aber es ist schon vorgekommen, dass ich die sympathischen Bauarbeiter vom Neubau gegenüber im Geiste ein wenig rügen musste: Aha, heute früh wohl erst um 6.30 Uhr begonnen und die Brotzeit schon um 9.45 Uhr? Früher war man froh, wenn die Kameraden erst um Elfe kamen, denn da war man längstens in der Redaktion. Heute formuliert man übergriffige Fragen im Geiste: Mit was der etwas handfester gebaute Dachdecker wohl heute seine Semmel belegt hat? Eine Scheibe Leberkäs weniger würde ihm auch nicht schaden. Oder, ganz anderes Beispiel: Neulich habe ich bemerkt, wie elegant die ältere Dame von schräg drüben ihr Weinglas beim Aperitivo zu halten pflegt. Und ihr dann gedanklich zugeprostet. Es gibt viele solcher Beispiele. Mit unbehaglicher Sicherheit auch gespiegelt. Bei meinen Nachbarn bin ich inzwischen bestimmt dafür berüchtigt, wie ich – eine nicht loszukriegende Marotte – meine eher halbnobel geratene Nase weiter rund drücke, wenn es zum Abend hin bei Redaktionsschluss pressiert ... Was das alles mit dem wahren Leben zu tun hat? Viel zu viel. Zeit, dass diese vermaledeite Pandemie endlich endet.