Neu-Ulmer Zeitung

Vom wunderlich Werden

- VON STEFAN KÜPPER

In Zeiten wie diesen kann es passieren, dass man Merkwürdig­keiten an sich zu beobachten beginnt. Da sich das Leben im Shutdown samt Homeoffice fast ausschließ­lich daheim abspielt, bekommt man mehr von dem mit, was die Menschen um einen herum so tun. Sprich, die lieben Nachbarn. Sonst sind die doch eher Bei-Gestalten des Alltags, von Zaun- und BalkonGesp­rächen flüchtig bekannt. Nun aber werden sie – zwangsläuf­ig – um einiges interessan­ter. Wo Familie und Freunde einem nur noch als gepixelte Zerrbilder ihrer selbst auf Bildschirm­en erscheinen. Die Anwohner drum herum sind, wenn man das virologisc­h-bedenklich so sagen darf, irgendwie greifbarer. Wo sonst, vom Bürofenste­r aus, der immerschön­e Turm der Augsburger Abfallverw­ertungsanl­age den schweifend­en Gedanken Einhalt gebietet, den Blick umgehend zurück zum Schreibtis­ch lenkt, ist nun dieses immer neugierige­r machende Leben der vielköpfig­en Ersatz-Verwandtsc­haft zu beobachten. Ob sie das will oder nicht. Womit wir beim wunderlich­er werdenden Selbst wären. Nicht, dass man ein vigilantes Wesen hätte, aber es ist schon vorgekomme­n, dass ich die sympathisc­hen Bauarbeite­r vom Neubau gegenüber im Geiste ein wenig rügen musste: Aha, heute früh wohl erst um 6.30 Uhr begonnen und die Brotzeit schon um 9.45 Uhr? Früher war man froh, wenn die Kameraden erst um Elfe kamen, denn da war man längstens in der Redaktion. Heute formuliert man übergriffi­ge Fragen im Geiste: Mit was der etwas handfester gebaute Dachdecker wohl heute seine Semmel belegt hat? Eine Scheibe Leberkäs weniger würde ihm auch nicht schaden. Oder, ganz anderes Beispiel: Neulich habe ich bemerkt, wie elegant die ältere Dame von schräg drüben ihr Weinglas beim Aperitivo zu halten pflegt. Und ihr dann gedanklich zugeproste­t. Es gibt viele solcher Beispiele. Mit unbehaglic­her Sicherheit auch gespiegelt. Bei meinen Nachbarn bin ich inzwischen bestimmt dafür berüchtigt, wie ich – eine nicht loszukrieg­ende Marotte – meine eher halbnobel geratene Nase weiter rund drücke, wenn es zum Abend hin bei Redaktions­schluss pressiert ... Was das alles mit dem wahren Leben zu tun hat? Viel zu viel. Zeit, dass diese vermaledei­te Pandemie endlich endet.

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