„Ich gehe lieber daheim zum Arzt“
Interview
Ex-Bundestrainer Marco Sturm über seine Wahlheimat Florida, seine Arbeit bei den LA Kings und das deutsche Eishockey
Herr Sturm, die in diesen Wochen sicherlich wichtigste Frage zuerst: Wie geht es Ihnen und Ihrer Familie? Sturm: Uns geht es sehr gut. Wir sind ja bereits seit rund sieben Wochen in unserer langjährigen Wahlheimat Florida. Das Wetter ist sehr schön und wir können uns hier auch frei bewegen. Aber klar, was das Thema Corona betrifft, ist die USA sicherlich Deutschland hinterher. Das ist momentan schon ziemlich extrem, wobei sich das Ganze – mit Ausnahme von New York – jetzt doch zu stabilisieren beziehungsweise verbessern scheint.
Wenn man die USA und Deutschland in der Corona-Krise vergleicht, unterscheiden sich die bisherigen Verläufe nahezu dramatisch. Während es in den Vereinigten Staaten aktuell rund 1,1 Millionen bestätigte infizierte Personen und 66000 Todesfälle gibt, ist Deutschland (165000/6800) bislang noch vergleichsweise glimpflich davongekommen. Nachdem Sie schon viele Jahre in den USA leben: Welche Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Gesundheitssysteme beider Länder? Sturm: Ja, das spielt definitiv keine untergeordnete Rolle. Ich muss auch ganz ehrlich zugeben, dass ich nach wie vor deutlich lieber zu einem Arzt gehe, wenn ich daheim in Deutschland bin. Nachdem ich beide Gesundheitssysteme sehr gut kenne, weiß ich aber auch, dass man sie nicht miteinander vergleichen kann. Da darf man als Deutscher schon stolz sein, dass wir ein solch gutes System haben. Was die USA betrifft: Im Vergleich zu Deutschland ist das Land beziehungsweise die Bevölkerungszahl einfach riesig. Hinzu kommt, dass hier die Schere zwischen den reichen und armen Leuten extrem groß ist. Viele können sich beispielsweise eine Krankenversicherung, geschweige denn eine Behandlung nicht leisten. So etwas kann man sich in Deutschland überhaupt nicht vorstellen. Daher ist es eigentlich unmöglich, diese Zahlen in ein Verhältnis zu setzen.
Lassen Sie uns über das Thema Sport sprechen. Die National Hockey-League (NHL) hat am 12. März den Spielbetrieb unterbrochen. Glauben Sie, dass die Saison 2019/2020 auf sportlichem Weg beendet wird?
Sturm: Ja, mittlerweile schon.
Was stimmt Sie optimistisch?
Sturm: Nun, hier in den USA blickt man – was die Entwicklung der Corona-Thematik betrifft, natürlich viel nach Europa. Nachdem dort jetzt nach und nach die Lockerungen einsetzen, werden diese in den kommenden Wochen auch in einigen US-Staaten folgen. Ich weiß auch, dass die NHL-Verantwortlichen händeringend versuchen, noch zu retten, was zu retten ist. Selbst wenn die Saison bis in den Juli oder August dauern würde, hätte man damit kein Problem.
Sturm: Klar, auf den ersten Blick sieht das vielleicht etwas komisch aus. Auch für uns persönlich ist es nicht ganz einfach, da wir aus dem Play-off-Rennen schon ausgeschieden sind und noch unsere verbleibenden 13 Partien durchziehen müssten. Das Ganze dann auch noch ohne Fans und an einem anderen Ort ... Aber so ist nun einmal die Situation. Dieser Vorschlag von der Liga ist mittlerweile auch offiziell und daher wohl ausgereift.
Sie sind seit November 2018 als Assistenz-Trainer bei den Los Angeles Kings tätig. Wie viel Freude bereitet Ihnen dieser Job?
Sturm: Er macht einen Riesenspaß. Natürlich kommt es auch immer darauf an, für welchen Klub beziehungsweise Cheftrainer man arbeitet. Auch wenn wir derzeit in der Tabelle hinten stehen, hatte ich großes Glück, bei den Kings gelandet zu sein. Mit Todd McLellan habe ich einen sehr erfahrenen Headcoach, von dem ich eine ganze Menge lernen kann.
Vor Ihrem jetzigen Engagement bei den Los Angeles Kings waren Sie rund dreieinhalb Jahre als Cheftrainer der deutschen Nationalmannschaft tätig. Wie lassen sich diese beiden Aufgaben miteinander vergleichen?
Sturm: Man muss ganz einfach sagen, dass das ein ganz anderes Level hier ist. Für mich persönlich bin ich nochmals eine Stufe nach oben gegangen. Das merke ich in meiner täglichen Arbeit. Ich hoffe, dass ich vielleicht irgendwann für die deutsche Auswahl wieder arbeiten kann. Aber für meine individuelle Entwicklung ist die Tätigkeit bei den Kings der absolute Wahnsinn.
Worin liegen die Unterschiede?
Sturm: Als Bundestrainer bist du der Chef, hast deine Maßnahmen und Turniere, auf die du deine Mannschaft vorbereiten musst. Leider sind das nicht sonderlich viele. Auch bist du mit den Jungs nicht täglich auf dem Eis, was die Sache nicht ein
macht. Hinzu kommt, dass es nicht immer um das Eishockey alleine, sondern auch um politische Sachen geht. Hier in Los Angeles kann ich mich dagegen zu 100 Prozent auf das Eishockey und die Spieler konzentrieren – Tag für Tag. Zudem sehe und lerne ich extrem viel.
Würden Sie sich denn grundsätzlich schon bereit für einen Chef-TrainerPosten in der NHL fühlen?
Sturm: Bereit für eine solche Aufgabe fühlt man sich eigentlich immer. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre – und das würde ich verneinen. Deshalb bin ich auch völlig entspannt, was meine Zukunft betrifft. Ich habe ja selbst als Spieler viele junge Coaches miterlebt. Ein gutes Beispiel ist Mike Sullivan, den ich während meiner Zeit in Boston als jungen Trainer erlebt habe. Er ist zwischenzeitlich ins Farm-Team zurückgegangen, danach wiedergekommen und jetzt ein Stanley-CupCoach in Pittsburgh. Das dauert oftmals viele Jahre, bis man als Cheftrainer in der NHL arbeiten kann. Natürlich wäre es für mich sehr schön, wenn es eines Tages tatsächlich klappen würde.
Der Höhepunkt während Ihrer Bundestrainer-Tätigkeit war der Gewinn der Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang. Inwieweit hat dieser Erfolg den Blick der NHL-Verantwortlichen auf das deutsche Eishockey verändert?
Sturm: Schon enorm. Bereits nach dem guten Auftritt bei der HeimWM 2017 (Platz acht, Anm. d. Red.) hat man in Nordamerika wahrgenommen, dass in Deutschland etwas passiert. Die Krönung war dann natürlich der große Erfolg in Südkorea, den jeder mitbekommen hat. Der Respekt dem deutschen Eishockey gegenüber ist hier mittlerweile sehr groß. Solche Turfacher niere, aber auch Ausnahme-Spieler wie Leon Draisaitl helfen diesbezüglich enorm.
Bleiben wir bei Leon Draisaitl. Wie wichtig ist es für das deutsche Eishockey selbst beziehungsweise den eigenen Nachwuchs, dass ein deutscher Akteur mittlerweile sogar zu den besten Eishockey-Spielern der Welt zählt? Sturm: Ich habe speziell in den USA schon viele Interviews gegeben, in denen es um Leon ging. Grundsätzlich finde ich es extrem schade, dass das, was Leon hier in der NHL leistet, in Deutschland gar nicht richtig wahrgenommen wird. Ich vergleiche ihn eigentlich immer etwas mit Dirk Nowitzki. Bei ihm weiß jeder, dass er ein absoluter Superstar und einer der besten Basketballer der Welt war. Bei Leon ist das leider noch nicht der Fall.
Woran liegt das?
Sturm: In Deutschland bekommt der ,normale‘ Sportfan im Grunde fast nur das mit, was im Fußball in der Bundesliga, 2. oder 3. Liga sowie in anderen Sportarten im eigenen Land passiert. Darüber hinaus wird es schon deutlich schwieriger. Vielleicht liest man mal etwas darüber, kann es aber gar nicht richtig zuordnen. Und das ist einfach sehr schade. Man muss sich das doch mal vorstellen: In seinen jungen Jahren ist Leon Draisaitl bereits einer der besten Eishockey-Spieler – wenn nicht sogar der beste – auf dieser Welt. Was er gerade in dieser Saison bislang geleistet hat (71 Spiele, 43 Tore, 67 Assists), unterstreicht, auf welchem Niveau er sich bewegt. Er ist einfach ein Spielertyp, auf den wir Deutschen enorm stolz sein und zu dem die vielen jungen Nachwuchstalente aufschauen können.
Interview: Dirk Sing
Marco Sturm, 41, stammt aus Dingolfing und begann seine Karriere in Landshut. In der NHL absolvierte er 1006 Spiele. Als Bundestrainer (2015 – 2018) gewann er 2018 Olympia-Silber. (AZ)