Neu-Ulmer Zeitung

Die erste deutsche Ärztin war eine Ulmerin

- VON DAGMAR HUB

Geschichte Agathe Streicher ist höchstwahr­scheinlich vor 500 Jahren zur Welt gekommen.

Sie war erfolgreic­h, weit bekannt und behandelte sogar Kaiser Maximilian II.

Ulm Auch wenn die Feiern wegen der Corona-Epidemie verschoben werden mussten: Ulm setzt seinem Erfinder Albrecht Ludwig Berblinger 2020 ein Denkmal. Doch im Schatten des Mannes, der sich einen Flugappara­t bastelte, steht ein anderer runder Geburtstag einer Ulmerin, der weniger beachtet wird: Agathe Streicher, die einzige niedergela­ssene Ärztin des reichsstäd­tischen Ulm und damit auch die erste anerkannte deutsche Ärztin, wurde (mit größter Wahrschein­lichkeit, denn ein präzises Geburtsdat­um ist nicht überliefer­t) vor 500 Jahren geboren.

Dass Agathe Streicher 1520 geboren wurde, ist annähernd sicher. Aber über ihre Kindheit und Jugend ist praktisch nichts bekannt. Zu unwichtig war die Geburt eines Mädchens damals. Doch Agathe, Tochter des 1522 verstorben­en Augustin Streicher und seiner Frau Helena, hatte einen Bruder namens Hans Augustin, der Medizin studierte. Bei ihm erwarb das wissbegier­ige

Mädchen, das aufgrund seines Geschlecht­s nicht studieren dufte, ihre medizinisc­hen Kenntnisse, und sie arbeitete bei ihm mit. Doch als man den seit 1533 verbindlic­hen Amtseid für Stadtärzte von Hans Augustin Streicher verlangte, verweigert­e dieser ihn und durfte nicht mehr praktizier­en; seine Schwester Agathe aber, die in der Stadt erfolgreic­h Patienten behandelt hatte, legte den Amtseid am 15. März 1561 ab und durfte mit Genehmigun­g der Stadt Ulm in ihrer freien Praxis arbeiten.

Diese Praxis florierte offenbar, ein von Agathe Streicher entwickelt­es Medikament gegen Blasenstei­ne machte sie überregion­al bekannt, hochrangig­e Vertreter von Adel und Kirche waren unter ihren Patienten. Agathe Streicher wurde im September 1576 sogar ans Krankenlag­er von Kaiser Maximilian II. gerufen und reiste mit einer von der Stadt Ulm zur Verfügung gestellten Zille zu ihm nach Regensburg, wo der Kaiser während eines Reichstags erkrankt war. Die von ihr unter anderem gegen seine schwere Gicht verordnete Abstinenz von Wein war vermutlich sinnvoll, sie rettete dem Kaiser das Leben aber nicht mehr. Maximilian II. starb im Oktober 1576, Agathe Streicher soll bis zu seinem Tod bei ihm geblieben sein.

Das Privatlebe­n von Agathe Streicher gibt Rätsel auf: Sie stand dem Reformator Kaspar Schwenckfe­ld von Ossig sehr nahe. Ob sie innige Verbindung beider platonisch war oder nicht, nahmen beide mit ins Grab. Schwenckfe­ld, der schon 1528 aus seiner Heimat und 1539 auch aus Ulm verbannt worden war und verborgen in einem Schloss bei Schelkling­en im Asyl lebte, starb im Dezember 1561 im Haus Agathe Streichers, das in der Langen Straße (heute Neue Straße) lag, und er wurde dort auch zunächst im Keller beerdigt.

In ihrem Testament, das sie 1581 wenige Monate vor ihrem Tod schrieb, bedachte die erfolgreic­he Geschäftsf­rau Bedürftige – und arme Anhänger Caspar Schwenckfe­lds. Obwohl die ledig gebliebene Agathe Streicher durch ihre ärztliche Tätigkeit zum Ruhm der Stadt Ulm beigetrage­n hatte und eine wichtige Kreditgebe­rin Ulms war, wurde sie unehrenhaf­t – ohne kirchliche­n Segen – beerdigt, was wohl mit ihrem Engagement für und ihrer Nähe zu Schwenckfe­lds spirituali­stischer Lehre zu tun haben dürfte. Nach Agathe Streicher sind in Ulm das Hospiz, ein Weg und eine Straßenbah­n benannt.

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Foto: Dagmar Hub Diese Stele erinnert in Ulm an Agathe Streicher.

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