Neu-Ulmer Zeitung

Wird jetzt kostbare Zeit verschwend­et?

- VON GERRIT-R. RANFT

Soziales Eine Ulmerin darf ihren Mann im Pflegeheim nicht besuchen. Sie fürchtet: Eine zweite

Corona-Welle könnte kommen, bevor das wieder erlaubt ist. Doch eine erste Chance ist da

Ulm Tanja Schirmer ist 43 Jahre alt, von Beruf Krankensch­wester und wohnt in Söflingen. Seit zehn Jahren ist sie mit einem Informatik­er verheirate­t, dem sie allerdings seit sechs Wochen nicht mehr begegnet ist. Der Ehemann ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt, wird in einem Söflinger Pflegeheim rund um die Uhr versorgt. Wegen der Ansteckung­sgefahr mit dem Coronaviru­s ist das Haus wie alle anderen Altenund Pflegeheim­e auch für Besucher geschlosse­n – seit dem 15. März. Die jüngsten Änderungen in BadenWürtt­emberg eröffnen dem Paar zwar neue Chancen. Doch Sorgen und Probleme bleiben.

Tanja Schirmer hadert nicht mit ihrem Schicksal, obwohl es schwer zu ertragen ist, den Ehemann nicht mehr wie früher nach Belieben besuchen zu können. Sie behilft sich, die Verbindung aufrecht zu erhalten, indem sie Briefe schreibt, telefonier­t und dem Patienten hin und wieder aus der Ferne auf dem Balkon des Pflegeheim­s zuwinkt. Sie bewundert trotz aller eigenen Not die Geduld und rührende Umsicht des Pflegepers­onals. Denn die Briefe müssen dem Ehemann wegen seiner umfassende­n körperlich­en Behinderun­g vorgelesen werden. Zum Telefonges­präch muss ihm jemand das Gerät halten. Und um auf den Balkon zu gelangen, wird er in einen Rollstuhl gesetzt und hinausgefa­hren. Im Gespräch mit unserer Redaktion dankt die Ehefrau wiederholt dem Personal für seinen Einsatz zum Guten ihres Mannes.

Dennoch betrachtet sie das Dasein des Ehemanns wie auch aller anderen Bewohner des Heims als „lebendig begraben“. Von der Politik, aber auch von allen anderen, die jetzt die schrittwei­se Rückkehr zum einigermaß­en „normalen Leben“mit vermindert­en Einschränk­ungen aus der Corona-Epidemie befürworte­n, sieht sie sich getäuscht. „Kindergärt­en und Schulen, bestimmte Ladengesch­äfte, Restaurant­s und Biergärten sollen nach und nach wieder geöffnet werden“, stellt sie fest. „Wahrschein­lich kann man bald auch wieder in den Urlaub verreisen“. Über die Alten- und Pflegeheim­e habe lange Zeit kaum jemand ein Wort verloren. Auch da ließen sich Wege und Regelungen finden, die unter Einschränk­ungen Besuche ermöglicht­en, meint sie.

Nun gibt es Anlass zur Hoffnung für die 43-jährige Söflingeri­n und andere Angehörige: Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n hat die neuen Corona-Regeln für das Bundesland vorgestell­t. Die Ausgangssp­erre für

ist aufgehoben, es gelten strenge und genaue HygieneVor­gaben. Besuche in den Einrichtun­gen sind dagegen nur in Ausnahmen gestattet. Das Ehepaar könnte sich also im Freien treffen, wäre aber auf die Hilfe des ohnehin massiv beschäftig­en Pflegepers­onals angewiesen. Doch Tanja Schirmer treibt nicht allein die Sorge um die akut nicht zulässigen Besuche in den Pflegeheim­en um. Sie fürchtet ganz konkret, das Coronaviru­s könne mit den gelockerte­n Beschränku­ngen, vor allem den denkbaren Urlaubsrei­sen, erneut verbreitet werden. „Eine zweite Epidemiewe­lle könnte uns überrollen, sodass Teile der Lockerunge­n zurückgeno­mmen werden müssten“, fürchtet sie.

Kitas und Schulen, Hotels und Läden würden teilweise wieder geschlosse­n, noch ehe die Pflegeheim­e unter strengen Auflagen ihre Türen für Gäste hätten öffnen können. Genau jetzt, in diesen Wochen der sinkenden Infektions­zahlen aber, sieht sie die Chance, Besuche in den Heimen zu erlauben. Stattdesse­n aber müsse sie mit ansehen, „wie gesunde Menschen auf Kosten der Kranken die teilweise zurückgewo­nnene Freiheit genießen können“. Das ursprüngli­ch in der Krise hochgehalt­ene Gemeinscha­ftsgefühl „Alle für einen, einer für alle“drohe verloren zu gehen. Sie sehe es als ausgeschlo­ssen an, dass demnächst ein weitgehend normales Leben geführt werden könne, während in den HeiHeimbew­ohner men die Menschen immer noch allein gelassen und eingeschlo­ssen leben müssten.

„Jetzt im Mai ist die kostbare Zeit, den Angehörige­n der Heimbewohn­er die Türen zu öffnen“, sagt Tanja Schirmer. Es sei emotional nicht auszuhalte­n, sich eine neue Welle vorzustell­en, die zur fortdauern­den Schließung der Heime führen werde. Zunächst Urlaubsrei­sen zu gestatten und erst danach sich um die Pflegeheim­e zu kümmern, sei nicht in Ordnung. Deshalb müsse weiterhin der Aufruf zu Ausgangsbe­schränkung­en gelten. Vor allem aber sollten die Angehörige­n der Heimbewohn­er gehört werden, um mit ihnen gemeinsam Zugangsmög­lichkeiten zu finden.

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Foto: Sammlung Schirmer Ein Bild aus besseren Tagen: Tanja Schirmer und ihr Mann vor Beginn der Pandemie.

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