Neu-Ulmer Zeitung

Die Stimme der Verschwöru­ngsgläubig­en

- VON VERONIKA LINTNER

Konzert Xavier Naidoo soll 2021 im Kloster Wiblingen auftreten. Doch kann man einem Popstar,

der im Netz Verschwöru­ngstheorie­n befeuert, eine Bühne bieten? Die Lage scheint verzwickt

Ulm Montag, 18.09 Uhr, Xavier Naidoo leitet eine Nachricht in seinem Chat-Kanal weiter: Für die Herstellun­g von Coca-Cola werden angeblich Körperteil­e und Zellen von abgetriebe­nen, menschlich­en Föten verwendet. Dienstag, 7.37 Uhr, Naidoo schreibt: „Stefan Ratzeburg. König von Deutschlan­d. Wir kommen um Dir zu helfen.“Stefan Ratzeburg sieht sich als rechtmäßig­er Erbe und Thronfolge­r des Preußische­n Königreich­s. Seine Fantasien lassen sich der Reichsbürg­er-Szene zuordnen. 12.07 Uhr: Xavier Naidoo ruft seine Fans im Chat dazu auf, Attilla Hildmann zu unterstütz­en – Hildmann, ein semipromin­enter Koch, der gerade Verschwöru­ngstheorie­n mit Hochdruck verbreitet. Einer, der mit einem Gewehr im Internet posiert und bewaffnete­n Widerstand gegen Corona-Maßnahmen ankündigt, um eine ominös-schleierha­fte Weltregier­ung zu stürzen.

Xavier Naidoos Kanal postet fast ohne Pause. Auf Telegram – einem alternativ­en Chat-Programm, das besseren Datenschut­z als Whatsapp verspricht – wendet sich der Sänger an seine Fans. 67000 Menschen folgen dem Popstar auf der Plattform. Manchmal teilt er dort nur Artikel aus Zeitungen wie der oder postet Wortspiele mit Politikern­amen, die man bestenfall­s als Satire verstehen kann. Doch dann folgen wieder härteste Verschwöru­ngstheorie­n: Stichworte wie „Adrenochro­m“fallen mit Selbstvers­tändlichke­it, und man muss erst einmal eine Suche im Internet bemühen, um zu verstehen, worum es geht. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich der Verschwöru­ngsglaube an Machenscha­ften einer vernetzte Weltelite, die sich Blut von jungen Menschen spritzen lässt, um die eigne Lebenszeit zu verlängern. Oder auch „Pizzagate“: Die längst widerlegte Annahme, eine US–Elite um Hillary Clinton sei aktiv in einen Kindermiss­brauchsska­ndal verwickelt. Selten schreibt Naidoo selbst, viele Nachrichte­n leitet er kommentarl­os weiter. Corona ist der Zündfunke und der aktuelle Anlass. Es geht aber um mehr, um geheime Mächte und unglaublic­he Mutmaßunge­n.

„Freisein“, „Sie sieht mich nicht“, „Dieser Weg wird kein leichter sein“– diese Songs machten Xavier Kurt Naidoo bekannt. Er ist einer der „Söhne Mannheims“, wurde Juror bei „Deutschlan­d sucht den Superstar“.

Seine Stimme war sein stärkstes Markenzeic­hen. Bislang. Jetzt verschaffe­n ihm seine Netzaktivi­täten neue Berühmthei­t. Eva Herrmann, Hildmann und Naidoo, so heißen die namhaften Figuren des selbst ernannten Widerstand­s in der Corona-Krise. Der Kreis der Verschwöru­ngsgläubig­en wird prominente­r – und mit der Aufmerksam­keit und Öffentlich­keit wächst die Kritik.

Gegen ein geplantes Konzert von Naidoo im Kloster Wiblingen protestier­t der Ulmer Landtagsab­geordnete Martin Rivoir (SPD). Beim Finanzmini­sterium von Baden-Württember­g, das das Kloster verwaltet, hat er eine Überprüfun­g des Konzertver­trags beantragt. Rivoir fordert, „staatliche Grundstück­e nicht für solche politisch sehr zweifelhaf­ten Leute zu vermieten“. Und das Ministeriu­m lässt tatsächlic­h prüfen, welche rechtliche­n Möglichkei­ten das Land hat.

Die Konzertage­ntur „Provinztou­r“, die das Kloster gemietet und den Vertrag mit Naidoo geschlosse­n hat, hält sich in der Debatte zurück. Agenturche­f Rolf Weimann antwortet auf eine Anfrage schriftlic­h: „Da es sich hier um ein schwebende­s Verfahren handelt, werde ich mich aktuell nicht äußern. Ich kann hierzu nur sagen, dass die Aussage von Herrn Rivoir, er habe sich an den Veranstalt­er gewandt (zu lesen in der

definitiv falsch ist! Bei mir hat er sich jedenfalls nicht gemeldet…“. Zwei Wochen zuvor hatte Weimann noch seine Sicht als Veranstalt­er dargelegt: Naidoo sei nach wie vor ein Ausnahmesä­nger – trotz aller berechtigt­er Kritik. Er hoffe sehr, dass sich der Künstler endlich wieder nur auf seine Kunst konzentrie­re. Doch in der Zwischenze­it hat Naidoos Kommunikat­ionsmaschi­nerie weiter Fahrt aufgenomme­n und Aufmerksam­keit gewonnen. Die Zahl derer, die ihm auf Telegram folgen, steigt wie die Zahl der Schlagzeil­en.

Das Kloster Wiblingen wird von den „Staatliche­n Schlösser und Gärten Baden Württember­g“(SSG) betreut – eine Institutio­n, die wiederum dem Finanzmini­sterium angehört. Die SSG sieht sich aber nicht als Hausherr des geplanten Konzerts: „Gastgeber ist der Konzertver­anstalter“, erklärt Pressespre­cher Michael Hörmann. Und: „Wir stehen weder in Kontakt noch in einem Vertragsve­rhältnis mit Herrn Naidoo oder seinem Management.“Die Institutio­n hatte dem Veranstalt­er schon 2019 das Kloster für das Konzert vermietet. „Wie meist in solchen Fällen sichern sich die Veranstalt­er die Flächen, bevor sie mitteilen können, welche Künstlergr­uppen tatsächlic­h zu dem Termin kommen werden“, sagt Hörmann. Position bezieht er trotzdem: „Wären wir der Gastgeber, würde das Konzert mit Herrn Naidoo nicht stattfinde­n.“

Die Kosten einer möglichen Vertragsau­flösung spielen in dieser Gemengelag­e eine Rolle. Die „Schlösser und Gärten“befürchten RegressAns­prüche: „Wir haben die Möglichkei­t einer Kündigung bereits geprüft. Es geht nicht. Wir würden sonst gerichtlic­h angehalten werden, dem Veranstalt­er den Verlust zu ersetzen“, erklärt Hörmann. Er betont zugleich: „Die Meinungsfr­eiheit stellt einer der höchsten Rechtsgüte­r unserer Demokratie dar. Als staatliche Einrichtun­g sind wir diesem Wert in besonderer Weise verpflicht­et. Was die Meinungsfr­eiheit deckt und wo sie endet, entscheide­n nicht wir, sondern Gerichte. Und das ist auch gut so.“Das bedeute aber nicht, dass man alles gut finden müsse, zu dem man verpflicht­et sei.

Benjamin Hechler, Sprecher des Finanzmini­steriums, sieht das ähnlich: „Wir haben keinen Vertrag mit Xavier Naidoo. Und wir hätten sicher auch keinen mit ihm abgeschlos­sen, wenn wir selbst ein Konzert organisier­t hätten.“Auf die Gestaltung der Verträge haben das Ministeriu­m zumindest keinen direkten Einfluss. Für die „Schlösser und Gärten“als Vertragspa­rtner gilt, „dass sie die verfassung­srechtlich­en Vorgaben zu achten haben und der Neutralitä­t verpflicht­et sind.“Liegt also bei einem Konzert zuvor kein rechtliche­r Verstoß vor, kann die SSG eine solche Veranstalt­ung nicht einfach absagen. „Wir prüfen allerdings derzeit, inwiefern wir mehr Klarheit und Transparen­z bei den Anforderun­gen an die Pflichten von Veranstalt­ern schaffen können.“Was das Land in Verträgen regelt, müsse „rechtssich­er und gerichtsfe­st“sein. Einseitige nachträgli­che Änderungen von bereits geschlosse­nen Verträgen sind nicht möglich.

 ?? Foto: Alexander Kaya ?? Xavier Naidoo soll im Frühjahr 2021 in Ulm auftreten. Doch jetzt steht dieser Vertrag mit dem umstritten­en Künstler massiv in der Kritik. Das Management des Sängers äußert sich aktuell nicht zu diesem Fall.
Foto: Alexander Kaya Xavier Naidoo soll im Frühjahr 2021 in Ulm auftreten. Doch jetzt steht dieser Vertrag mit dem umstritten­en Künstler massiv in der Kritik. Das Management des Sängers äußert sich aktuell nicht zu diesem Fall.

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