Neu-Ulmer Zeitung

Rock am Ring? Pop auf dem Parkplatz!

- VON VERONIKA LINTNER

Musik Michael „Paddy“Kelly gibt ein Konzert im Autokino am Ulmer Volksfestp­latz. Dieser Abend beweist, wie nah wir trotz Kontaktver­boten zusammenrü­cken können – und dass Hupen fast mehr Spaß macht als Applaus

Ulm Wozu so eine Autohupe gut ist, regelt Paragraf 16, Straßenver­kehrsordnu­ng: „Schall- und Leuchtzeic­hen darf nur geben, wer außerhalb geschlosse­ner Ortschafte­n überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.“Behördende­utsch. Klar und trocken wie der Himmel an diesem Frühsommer­abend. Aber das scheint den Menschen im zäh fließenden Autokorso, in der langen Schlange zum Autokino, relativ egal zu sein. Ein Mann, hinterm Lenker eines schnieken Audis, verliert die Geduld. Er beginnt zu hupen, entnervt, weil sich die Fahrzeugko­lonne zum Ulmer Volksfestp­latz staut. Eigentlich sollte der Krach doch erst mit dem Konzert beginnen? Hupen statt Applaus? Der Sänger Michael Patrick Kelly – wohl noch bekannter als „Paddy“von der Kelly-Family – wird auf dem Volksfestp­latz auftreten, im Autokino in der Friedrichs­au. Dieses Event hat der Sender Radio 7 mit dem NeuUlmer Dietrich-Kino organisier­t. Und noch mehr: In drei weiteren Autokinos, in Crailsheim und Friedrichs­hafen, laufen an diesem Abend Pop-Konzerte über die Bühne. Der Moderator in Ulm verspricht das „erste Festival des Jahres“– der Corona-Zeit. Es wird ein Abend mit viel Gefühl und Musik, Parkplatzr­omantik und wohligen „Wir“-Gefühlen. In Ulm steht die kleine Bühne neben der gigantisch­en Leinwand noch leer und verlassen. Paddy Kel

singt erst zum großen Finale und jetzt muss erst einmal die Technik mitspielen: Etwas Gefummel an den Radioknöpf­en, bis man die richtige Sender-Frequenz aus den UKW– Wellen herausgefi­scht hat. Tatsache. Jetzt sieht man ihn nicht nur auf der Leinwand, jetzt hört man auch den Moderator im Autokino Friedrichs­hafen, der in Radiomanie­r loskalauer­t: „Ihr gebt ein Bild ab, das erinnert mich ein bisschen an einen Gebrauchtw­agenhandel.“Die Kamera schwenkt über Autodächer, man erahnt gut gelaunte, lächelnde Menschen hinter Windschutz­scheiben. Zwei Popstars namens Lotte und Joris beginnen die Show. Ihr Sound schmiegt sich reibungslo­s an die Gefühlslag­e dieser Corona-Tage. Deutschpop mit Melancholi­e, empfindsam bis hochempfin­dlich und doch mit Funken von Zuversicht. Die rauchigen Stimmen der beiden Sänger, die an getrennten Orten auftreten, ähneln sich sogar. Der helle Tag geht auf sein Ende zu. Die Sonne steht tief über dem Kiesplatz in Ulm, strahlt ein warmes Licht auf die große LED-Leinwand. Wenn Lotte jetzt ihren bekanntest­en Hit singt, wenn sie so ganz allein mit ihrer Gitarre „Auf das, was da noch kommt“anstimmt – dann erzeugt das tatsächlic­h so etwas wie Schotterpl­atzromanti­k. Schlendert man in Ulm durch die Parkreihen, fügt sich der Sound aus Hunderten Autoradios zu einem Klangfeld, die Musik kommt von überall, hier und da schnurrt halblaut ein Motor. In Friedrichs­hafen darf nicht gehupt werden. Dafür hupt man in Ulm nach jedem Song dreifach zurück.

Kelly-Fan-Plakate liegen schon hübsch drapiert auf vielen Motorhaube­n. Autos aus GP, KA, HDH parken beieinande­r und auch Autos aus der Schweiz haben sich eingeschli­chen: Berner Kennzeiche­n, große Flagge mit weißem Kreuz auf rotem Grund. Vor dem Coca-Cola-roten Snack-Wagen hat sich inzwischen eine Schlange gebildet, mit zwei Meter Abstand zwischen den Gruppen, und ein heftig turtelndes Paar fragt sich nach zehn Minuten: „Was gibt es da vorne eigentlich zu kaufen?“Warten, Anstehen, Abstand halten – Tugenden der Corona-Zeit.

Ein Becherchen mit Dip liegt griffberei­t auf einem Autodach, und drunter, auf der Ablage über dem Handschuhf­ach die Schüssel Chips. Eine Frau lehnt sich an ihr Fahrzeug, in der rechten Hand ein Glas Prosecco, in der linken eine Schutzmask­e und ein Handy, das sie gleich für ein Selfie zückt. Daneben rückt eine Frau mit Sprühflasc­he und Lappen an, um eine Windschutz­scheibe zu putzen. Man wechselt freundlich­e Blicke, „Wir“-Gefühle machen sich breit. Es ist wie Samstagabe­ndfernsehe­n auf einem Schotly terplatz, mit einer Prise FestivalCa­mping-Atmosphäre. Nicht ganz Rock am Ring, aber Pop auf dem Parkplatz. Was sind das für Zeiten? Lotte erzählt, dass auch sie, wie zahllose andere Künstler, plötzlich arbeitslos geworden ist. Die Sängerin, 24 Jahre alt, aus Ravensburg, hat Philosophi­e studiert. Jeder ihrer Songs klingt wie eine Selbstanal­yse, ein kleiner Tagebuch-Eintrag. „Ich fühle sehr viel“, sagt die Sängerin und das Gefühl überträgt sich. Der schöne Kitsch dieses Parkplatz-Happenings erreicht einen Gipfel, als Joris in Crailsheim Bill Withers „Lean on Me“anstimmt – eine Hymne für Zusammenha­lt, für das Angebot einer starken Schulter in schweren Zeiten. Harter Schnitt. Auftritt „Glasperlen­spiel“. Das Elektropop­Duo legt los und plötzlich klingt alles nach Rummelplat­z und Autoscoote­r, wie der Soundtrack zur letzten, wildromant­ischen Halligalli-Stunde, bevor das Volksfest schließt. „Ich wünsch dir noch ein geiles Leben“, trällert Carolin Niemczyk, die Frontfrau, und stolziert zur Musik durch die Autokino-Halle in Friedrichs­hafen. Sie schreibt Autogramme auf Windschutz­scheiben. Sie giggelt: „Das geht nie wieder weg.“Und wer braucht schon Feuerzeuge, wenn er mit Scheibenwi­schern winken und per Lichthupe blinken kann? Im Autokino Friedrichs­hafen, das, zumindest in der Liveübertr­agung, eher dumpfen Parkhaus-Charme versprüht, blitzen die Scheinwerf­ern. In

Ulm bedienen die Fans die Hupen jetzt mit Volldampf. Michael Patrick Kelly betritt die Bühne. Jubel. Fans in er ersten Reihe haben ein Leuchtschi­ld auf ihrem Auto installier­t, mit einer Botschaft für den Sänger. „Grüß dich Paddy“, steht da und der Sänger fragt höflich, woher die Grüßenden kommen. „Vom Niederrhei­n!“, schreit ein Fan über den Platz. Der Sänger lächelt und singt seinen neuen Song: „Beautiful Madness“. Bei seinem Ohrwurm „iD“bittet Paddy Kelly dann das Publikum um Unterstütz­ung. Die Fans sollen den Schlagzeug­er auf der Bühne unterstütz­en und hupen zum Takt. Der erste Versuch, im Chor die Anlage für das „Schallsign­al“rhythmisch zu betätigen, schlägt fehl und endet in einer wilden Horn-Arie. Doch dann? Geht es plötzlich. Möp, Möp. Pause. Möp. Alle gemeinsam. Das Coronaviru­s hat die Art verändert, wie wir kommunizie­ren. Wir hupen für Popstars und applaudier­en für Menschen in Rettungswa­gen. Wenn man ehrlich ist: Ob Michael Patrick Kelly, Max Giesinger oder Helene Fischer gesungen hätte, wäre nicht das Entscheide­nde an diesem Abend gewesen. Es ist das gemeinsame Lichtermee­r. Kinder, die sich aus dem Autofenste­r lehnen und singen. Gemeinsam geht auch mit Abstand. Zuversicht funktionie­rt auf Distanz. In Lottes Song heißt es: „Auf das, was da noch kommt. Auf jedes Stolpern, jedes Scheitern. Es bringt uns alles ein Stück weiter zu uns.“

„Wir“-Gefühle machen sich im Autokino breit

 ?? Foto: Veronika Lintner ?? Michael Patrick Kelly hat als Spross der Kelly-Family das Pop-Geschäft kennengele­rnt und vieles erlebt – so einen Auftritt im Autokino allerdings noch nicht. Auf dem Ulmer Volksfestp­latz versammelt­en sich Hunderte Fans in Fahrzeugen. Sie erlebten „Paddy“Kelly live und sahen auf der Leinwand die Liveübertr­agung von Autokino-Konzerten in Crailsheim und Friedrichs­hafen.
Foto: Veronika Lintner Michael Patrick Kelly hat als Spross der Kelly-Family das Pop-Geschäft kennengele­rnt und vieles erlebt – so einen Auftritt im Autokino allerdings noch nicht. Auf dem Ulmer Volksfestp­latz versammelt­en sich Hunderte Fans in Fahrzeugen. Sie erlebten „Paddy“Kelly live und sahen auf der Leinwand die Liveübertr­agung von Autokino-Konzerten in Crailsheim und Friedrichs­hafen.

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