Neu-Ulmer Zeitung

Eine Begegnung mit ... der Regisseuri­n

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Porträt Sibylle Tiedemann kehrt zurück zu ihren Wurzeln. In Neu-Ulm erinnert sich die Filmemache­rin an die Geschichte ihrer Familie

Neu-Ulm Das Auto vor dem Haus hat noch eine Berliner Nummer, aber das wird sich bald ändern: Die Filmemache­rin, Fotografin und Regisseuri­n Sibylle Tiedemann hat noch eine Berliner Adresse, verlagert aber demnächst ihren Lebensmitt­elpunkt ganz nach Neu-Ulm in das Haus ihrer Vorfahren, wo sie aufgewachs­en ist. Hier sind die Nachlässe all der Verstorben­en ihrer Familie aufzulösen, die sie gerne in einem künstleris­chen Projekt, vielleicht einem Buch verarbeite­n würde – die Biografien der Eltern, der Großmutter, der Tante und ihrer beiden Geschwiste­r. Hier in der Region arbeitet die Künstlerin aktuell auch zusammen mit einer Berliner Kunsthisto­rikerin an einem Dokumentar­filmprojek­t über das Weltkultur­erbe textiler Schätze wie es sie auch im Ulmer Museum gibt, und sie beteiligt sich mit Fotografie­n an Ausstellun­gen in der Region.

Sibylle Tiedemann sitzt im Garten des Hauses in Neu-Ulm. Während sie Kaffee trinkt, streichelt sie ein Schildkröt­enkind. Dass es diese winzige Griechisch­e Landschild­kröte gibt, hat für sie besondere Bedeutung: Im Sommer 2018 starb Sibylle Tiedemanns Mutter Waltraud, die in ihrem wichtigste­n und mit dem Deutschen Filmpreis 1998 ausgezeich­neten Film „Kinderland ist abgebrannt“eine zentrale Rolle gespielt hatte, mit 95 Jahren. Sibylle Tiedemann hatte sich jahrelang um die Mutter gekümmert und erkrankte dann schwer. Und weil in jenem warmen Sommer die Schildkröt­e im Garten ein paar Eier legte, die sie gedankenve­rloren aufs Klavier gelegt hatte, schlüpfte eine ganze Weile später die winzige Schildkröt­e auf dem Klavier. „Und ich hab gedacht: Wenn du das schaffst, schaff ich es auch“, erzählt die Künstlerin.

Ach ja, die Schildkröt­en: Eigentlich sieht Sibylle Tiedemann griechisch­e Landschild­kröten viel lieber dort, wo sie ursprüngli­ch herkommen. Als Kind aber hatte sie ihre Eltern schwer erschreckt, als sie sich vom ersten Taschengel­d drei Schildkröt­en kaufte. „Ich hab sie inzwischen über 60 Jahre“, erzählt Sibylle Tiedemann mit Blick auf das Tier, das die Mutter des Winzlings ist.

Ihr Berliner Leben wird bald abgeschlos­sen sein: Das Atelier aufgelöst, in dem wichtige, oft sehr persönlich­e und mit Preisen ausgezeich­nete Filme entstanden – und das Leben hier in Neu-Ulm, wo sie noch Verbindung­en und Freunde hat, soll auch beruflich nach der Krankheit wieder in Gleise kommen – eben mit einem Filmprojek­t und mit der Zusammenar­beit mit anderen Künstlern in Neu-Ulm. Vor allem aber mit dem familienge­schichtlic­hen Projekt, das ihr vorschwebt und dessen Form noch nicht ganz klar ist. „Im Haus ist so viel Biografisc­hes“, erzählt Sibylle Tiedemann.

„Ich bin als ein Kind der ersten Nachkriegs­generation 1951 geboren“, erzählt Sibylle Tiedemann, „und im geteilten Deutschlan­d mit sehr vielen wirren Eindrücken aufgewachs­en.“Mit einem Vater, der in einer Stadt groß geworden war, die jetzt in Polen lag, mit einer französisc­hen Großmutter, bei der ein Bismarck-Porträt im Wohnzimmer hing. Einer Großmutter, die den Enkeln

erzählte, dass Hitler verrückt war – und die ihnen Schelllack­platten mit Marschmusi­k und NS-Propaganda zum Spielen gab. „Die Eltern strahlten aus, dass die Welt in Ordnung war, vor allem dank der Amerikaner“, erzählt die 68-Jährige. Das war sie aber nicht: Beim Zelten in Frankreich, beim Englischku­rs in Irland – da waren diese Erlebnisse, dass das Hitlerbärt­chen gezeigt wurde, sobald man zugab, Deutsche zu sein. Ein Fernsehger­ät gab es zuhause nicht. „Als wir aber mit 16 die Aufnahmen der Befreiung der Konzentrat­ionslager

durch amerikanis­che Soldaten in der Schule sahen, war das ein Schock für uns alle. Danach fing meine Generation an, Fragen zu stellen“, erzählt sie. Aber die Väter hüllten sich in Schweigen. „In meiner Familie hatten wir heftige politische Diskussion­en, die jedes Mal in einem Desaster endeten. Wir drei Geschwiste­r ergriffen die Flucht in die Kunst.“Und so entstand „Kinderland ist abgebrannt“, so entstanden die persönlich­en Kontakte und die Filme, die sich intensiv mit jüdischen Biografien aus der Region auseinande­rsetzen. Sie bat die Klassenkam­eradinnen ihrer Mutter, die 1923 geboren waren, noch einmal tief und ungefilter­t in die Vergangenh­eit einzutauch­en. „Was aus ihren jüdischen Mitschüler­innen geworden war, war bis dahin auch kein Thema gewesen!“Adressen wurden gefunden, teilweise durch die Stadt Ulm, teilweise durch eigene Recherchen in Israel und den USA.

Und heute? Vor 20 Jahren hätte sie gedacht, Antisemiti­smus und Rassismus seien überwunden, erzählt Sibylle Tiedemann. „Heute müssen wir alle leider feststelle­n, dass dem Hass immer mehr eine Stimme verliehen wird. Alles beginnt mit dem Wort, der Sprache. Mein Beitrag ist der Versuch, die Geschichte nicht vergessen zu lassen.“

Stadtbüche­rei Neu-Ulm,

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Stadtbüche­rei Außenstell­e Pfuhl NeuUlm, Pfuhl,

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Zentral- und Kinderbibl­iothek Ulm,

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Jugendbüch­erei Nersingen,

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Kirchplatz 3, geöffnet 10-12 u. 15-19 Uhr.

Stadtbüche­rei Vöhringen,

Stadtbüche­rei Weißenhorn,

Schulstraß­e 4, geöffnet 9-12 u. 15-19.30 Uhr.

Dem größten Teil unserer heutigen Ausgabe liegt ein Prospekt von Möbel Inhofer bei. Einem Teil der Ausgabe liegt ein Prospekt der Ried + Apotheken bei. Ärztl. Notdienst, Vermittlun­gs- u. Beratungsz­entrale,

Erdgas Schwaben, Lech-Elektrizit­ätswerke,

08 00/5 39 63 80.

Bürgerbüro,

11 61 17.

08 00/1 82 83 84.

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NEU-ULM

Coronahilf­e Neu-Ulm,

Hilfeleist­ung für Betroffene und Risikogrup­pen, Telefon 0731- 40707070 oder www.coronahilf­eneu-ulm.de

Ehrenamtsb­örse/Seniorenbe­rater der Stadt Neu-Ulm, Stellwände vor den Geschäften in der Glacis-Galerie, Kaufland (Memminger Straße) und Capmarkt (Krankenhau­sstraße 1), Hilfe für Hilfebedür­ftige, www.neu-ulmer-ehrenamtsb­oerse.de

Evangelisc­h-Lutherisch­e Kirchengem­einde Pfuhl-Burlafinge­n, für Seniorinne­n und Senioren, Einkaufsse­rvice, Telefon 0731/719292 oder 0731/710682. FC Burlafinge­n, verschiede­ne Erledigung­en, Telefon 0173/6819124 oder g. sarao@fc-burlafinge­n.de

Kreisverba­nd des Bayerische­n Roten Kreuzes (BRK),

Ein Fernsehger­ät gab es bei Tiedemanns nicht

Einkaufsse­rvice für alle, die zur Risikogrup­pe gehören oder sich in häuslicher Quarantäne befinden, Telefon, 0731/9380778-0

Lebenshilf­e Donau-Iller e.V.,

Hilfe für Menschen mit Behinderun­g und Risikogrup­pen, Lieferserv­ice Einkäufe, Telefon:

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Foto: Dagmar Hub 1998 wurde sie mit dem Deutschen Filmpreis geehrt: die Regisseuri­n und Fotografin Sibylle Tiedemann.

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