Neu-Ulmer Zeitung

Merkel und die Industrie: Eine unglücklic­he Beziehung

- VON BERNHARD JUNGINGER

Leitartike­l Die Kanzlerin ließ die Bosse links liegen, manchmal zu Recht, insgesamt aber zum Schaden des wirtschaft­lichen Fortschrit­ts. Daran ändern die Corona-Milliarden nichts

Das wird wohl nichts mehr mit Angela Merkel und der Industrie. Ein besonders herzliches Verhältnis hatte die Bundeskanz­lerin noch nie zu den Bossen, Anzeichen, dass sich das jetzt auf der Zielgerade­n ihrer Amtszeit noch einmal ändert, gibt es kaum. An diesem Dienstag tritt Merkel zum vermutlich letzten Mal beim Tag der Industrie auf, dem Hochamt des produziere­nden Gewerbes. Allein die vielen Hilfsmilli­arden, mit denen die Regierung der Wirtschaft in der Corona-Krise unter die Arme greift, werden verhindern, dass das Finale allzu frostig wird. Das Fazit bleibt: Die Distanz zwischen Merkel und der Industrie ist gewaltig – und hat den Fortschrit­t Deutschlan­ds behindert.

Dabei ist nichts falsch daran, dass Merkel sich nie als Industriek­anzlerin verstanden hat und auch keine

Autokanzle­rin war. Nein, die Politik darf sich von der Wirtschaft natürlich nicht an der Nase herumführe­n lassen. Im vergangene­n Jahr hat Merkel daher völlig zu Recht den Autobauern wegen ihrer AbgasBetrü­gereien die Leviten gelesen.

Merkel aber hat die Industrie, Rückgrat unserer Wirtschaft und Garant unseres Wohlstands, zumindest gefühlt, meist einfach links liegen lassen. Mit Atom- und Kohleausst­ieg etwa hat sie viele Firmen vor gewaltige Herausford­erungen gestellt. Denn der Umstieg auf erneuerbar­e Energieque­llen kommt zu schleppend voran. Kluge Politik aber darf nicht nur Klimaschut­z einfordern, sie muss auch aufzeigen, wie eine nachhaltig­e und sichere Energiever­sorgung aussehen soll. Deutschlan­d kann sich den Verlust keines einzigen Arbeitspla­tzes leisten – auch nicht in den energieint­ensiven Branchen.

Steuersenk­ungen hat sich die Wirtschaft weitgehend vergeblich gewünscht von den merkelsche­n Koalitione­n, ob schwarz-gelb oder schwarz-rot. Schließlic­h will die wachsende Zahl sozialer Wohltaten

ja finanziert sein. Dabei zeigt sogar die Mini-Mehrwertst­euersenkun­g, nur um wenige Prozentpun­kte und zeitlich begrenzt, zumindest ansatzweis­e, eine Wirkung. Der private Konsum steigt, sobald die Menschen mehr Geld zur Verfügung haben.

Durch die milliarden­schweren Corona-Hilfspaket­e der Bundesregi­erung zur Stützung der Wirtschaft wird der im Grundsatz weiter schwelende Konflikt verdeckt. Mit allzu harscher Kritik an Merkel und ihrem Wirtschaft­sminister und CDU-Parteifreu­nd Peter Altmaier werden sich die Industriel­len wohl zurückhalt­en. Dabei müssen jetzt dringend auch unangenehm­e Fragen auf den Tisch. Wie etwa ist zu verhindern, dass es nach dem Ende der Kurzarbeit­sregelunge­n zu Massenentl­assungen kommt? Die schwarz-rote Bundesregi­erung wird alles tun, damit dies, wenn es denn geschieht, erst nach der Bundestags­wahl im Herbst 2021 geschieht. Gedient ist damit niemandem. Zu lange Kurzarbeit birgt auch Risiken. Gesunde Unternehme­n könnten zögern, den Betrieb wieder voll hochzufahr­en, wodurch ein Aufschwung ausbleibt. Gleichzeit­ig drohen scheintote Firmen, die schon vor Corona am Ende waren, länger dahinzusie­chen, als nötig.

Die Pandemie hat auch gezeigt, wie anfällig weltweite Lieferkett­en sind. Was es jetzt braucht, ist ein Bekenntnis der Wirtschaft zum Standort Deutschlan­d. Ein Bekenntnis, dass zuletzt auch ausländisc­he Firmen wie Tesla mit Milliarden­investitio­nen gaben. Gleichzeit­ig ist es an der Politik, deutlicher als bisher zu machen, dass sie verstanden hat, dass Dienstleis­tungen allein unseren Wohlstand nicht sichern können. Wir müssen weiter Dinge herstellen, nicht die billigsten, aber die besten und nachhaltig­sten. Merkels Nachfolger, wer das auch sein wird, tut gut daran, wieder einen engeren Schultersc­hluss mit der Industrie zu suchen.

Dienstleis­tungen

alleine sichern keinen Wohlstand

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Zeichnung: Mohr Herr Heil macht mobil.
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