Neu-Ulmer Zeitung

Steht die 24‰Stunden‰Pflege vor dem Aus?

- VON JAN‰LUC TREUMANN

Gesellscha­ft Ein Urteil gibt einer Klägerin recht und spricht ihr einen Mindestloh­n für täglich 21 Stunden zu.

Doch das können sich Familien oft kaum leisten. Beteiligte fordern, dass sich das System ändern muss

Augsburg Es ist Nacht. Die Seniorin braucht Hilfe und die Pflegerin muss aufstehen, die Windel, vielleicht auch das Nachthemd wechseln. Doch nicht nur nachts, rund um die Uhr, jeden Tag muss die Pflegerin bereitsteh­en. So erzählt sie es der Deutschen Welle. Und das, obwohl sie für nur 30 Stunden in der Woche bezahlt wird. Die Bulgarin klagte. Das Landesarbe­itsgericht Berlin-Brandenbur­g bestätigte im August die Entscheidu­ng der vorherigen Instanz und sprach der Frau den Mindestloh­n zu – für eine tägliche Arbeitszei­t von 21 Stunden. Das Urteil könnte die ganze Branche der 24-Stunden-Betreuung umkrempeln. Betroffen sind zehntausen­de Menschen, die im eigenen Zuhause betreut werden, sowie diejenigen, die sie pflegen.

Es ist ein Modell, mithilfe dessen es vielen Familien in Deutschlan­d überhaupt erst ermöglicht wird, die pflegebedü­rftigen Angehörige­n in der gewohnten Umgebung zu belassen. Betreuerin­nen, häufig aus Osteuropa, ziehen zu einem oder einer Seniorin nach Hause. Sie kümmern sich um den Haushalt und versorgen die zu pflegende Person. Sie werden als sogenannte Live-ins bezeichnet. Die Betreuerin­nen arbeiten laut Theresa Tschenker in verschiede­nen Vertragsmo­dellen. Tschenker arbeitet an der Europa Universitä­t

Viadrina in Frankfurt an der Oder an einem Forschungs­projekt zu Modellen der Live-in-Pflege. Die Juristin erklärt, welche Modelle derzeit üblich sind.

Beim Arbeitgebe­rmodell ist die Betreuungs­person oder ein Angehörige­r der Arbeitgebe­r. Dadurch sei die soziale Absicherun­g der Live-ins sichergest­ellt. Bei einem anderen Modell sind die Betreuerin­nen als Selbststän­dige tätig, schreiben Rechnungen. Zudem gebe es das Entsendemo­dell. Dort sei die Betreuerin bei einer Vermittlun­gsagentur, meist in ihrem Heimatland, angestellt und werde nach Deutschlan­d geschickt. Tschenker und ihre Kollegen untersuche­n, ob Agenturen, die eine 24-Stunden-Betreuung anbieten, auch legal arbeiten. Die Studie läuft noch ein Jahr lang. Bisher kristallis­iert sich laut Tschenker jedoch heraus: „Wir mussten feststelle­n, dass sich die Arbeitsbed­ingungen in den verschiede­nen Modellen nicht wirklich unterschei­den.“Die Familien gingen davon aus, dass sie eine 24-Stunden-Betreuung einkaufen – egal, welches

Vertragsmo­dell zugrunde liege. „Auch wenn die Agenturen sagen, dass sie Aufklärung­sgespräche über Ruhezeiten führen, lebt die Branche davon, dass die Freizeitve­rsprechen nicht eingehalte­n werden.“

So wie bei der Klägerin aus Bulgarien. Justyna Oblacewicz begleitet die Frau in dem Fall. Oblacewicz arbeitet für das Projekt Faire Mobilität des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes. Dort wird vor allem Menschen aus Ost- und Mitteleuro­pa bei arbeits- und sozialrech­tlichen Problemen geholfen.

Oblacewicz sieht die weitestgeh­ende Bestätigun­g des Urteils sehr positiv. „Es zeigt, dass entgegen der üblichen Praxis in der Branche jede gearbeitet­e Stunde sowie Bereitscha­ftszeit mit dem gesetzlich­en Mindestloh­n vergütet werden müssen. Das Modell funktionie­rt bisher so, dass massive Gesetzesve­rstöße stattfinde­n.“Würden sämtliche Betreuungs­kräfte klagen, wäre das Modell nicht mehr bezahlbar.

Laut Bundesarbe­itsministe­rium wird in Deutschlan­d in etwa 100 000 Haushalten eine privat finanziert­e Pflege- oder Hilfskraft beschäftig­t. So zumindest die offizielle Zahl. Laut Frederic Seebohm sind es sogar 300 000. Auch der Geschäftsf­ührer des Verbands für Häusliche Betreuung und Pflege begrüßt das Urteil. Der Verband setzt sich laut Seebohm für mehr Rechtssich­erheit für die Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft ein. Auch er sieht Bedarf für Verbesseru­ngen, denn der Anteil der Schwarzarb­eit in der Betreuung zu Hause liege bei 90 Prozent. Der Geschäftsf­ührer schlägt vor, dass sich Deutschlan­d am österreich­ischen Modell orientiert. Seebohm sagt: „Die Betreuungs­personen werden von Vermittlun­gsagenture­n zu Familien vermittelt und verhandeln ihre Honorare selbst.“Seebohm vergleicht das Modell mit dem der freien Mitarbeite­r wie bei Solo-Handwerker­n oder Journalist­en.

Eine 24-Stunden-Betreuung könne es sowieso nicht geben. Das sei eine Formulieru­ng, die sich bei Suchanfrag­en im Internet eingebürge­rt habe. Seebohm sagt: „Wir brauchen flexible Möglichkei­ten, sodass sich eine freie Mitarbeit mit den Vorteilen der gesetzlich­en Sozialvers­icherung kombiniere­n lässt.“Aber Seebohm kritisiert auch die strengen Regeln zur Präsenzzei­t im Arbeitsrec­ht: „Nur weil ich vor Ort bin, muss ich nicht bezahlt werden. Bei der freien Mitarbeit gibt es keine Bereitscha­ftszeit.“Anders sei dieses Modell kaum umsetzbar.

Seebohm sieht zur Betreuung in häuslicher Gemeinscha­ft aber keine Alternativ­e. Es gebe nicht genügend Pflegepers­onal für Heimplätze und viele Senioren würden gerne daheim gepflegt werden. Kritik von Gewerkscha­ften, dass die Betreuerin­nen aufgrund schlechter Sprachkenn­tnisse nicht für ihre Rechte eintreten könnten, sieht er nicht so: „Wir müssen uns vom Bild der hilflosen Betreuungs­person verabschie­den. Diese Menschen sind häufig ausgezeich­net informiert und reisen ab, wenn sie unzufriede­n sind.“

Tschenker sieht dagegen ein großes Abhängigke­itsverhält­nis, weil die Live-ins auch ein intimes Verhältnis zu den Pflegebedü­rftigen aufbauten – eine Klage zerstöre das Vertrauen. Auch das österreich­ische Modell sieht sie nicht als Vorbild: „Das war eine Legalisier­ung der Branche, ohne wirklich etwas an den Arbeitsbed­ingungen zu ändern.“

Justyna Oblacewicz hofft auf eine Reform des Pflegesyst­ems. Das sei derzeit wie eine Teilkaskov­ersicherun­g, Familien und Pflegevers­icherung teilten sich die Kosten. „Das ist nicht günstig, aber für Familien aus dem Mittelstan­d erschwingl­ich.“Wenn die Kosten steigen, sei die Betreuung für diese Familien nicht mehr bezahlbar. Das dürfe aber kein Argument sein, um dieses Ausbeutung­smodell

Freizeitve­rsprechen werden nicht eingehalte­n

Neue Formen der Betreuung sind notwendig

nicht abzuschaff­en. „Sondern es bedeutet, dass häusliche Betreuungs­kräfte im gesetzlich zulässigen Rahmen arbeiten und entspreche­nd bezahlt werden.“

Ähnlich sieht es Tschenker: „Ich denke, dass diese Eins-zu-eins-Betreuung aufgrund des gesellscha­ftlichen Wandels nicht aufrechtzu­erhalten ist.“Es müsse viel Geld und Energie in den Aufbau kollektive­rer Betreuungs­formen fließen. Tschenker sagt, sie verstehe, dass Menschen ihr gewohntes Umfeld nicht verlassen wollen. Doch diese individuel­le Eins-zu-eins-Betreuung sei ein Luxus, der auf Dauer nicht aufrechtzu­erhalten sei: „Hier muss sich der Diskurs in der Gesellscha­ft ändern.“

Ob das Urteil all das bewirken und die Branche grundsätzl­ich verändern kann? Sicher beantworte­n kann Tschenker das nicht: „Es ist wie immer im Recht: Wo keine Klägerin, da kein Richter.“Und auch der aktuelle Fall ist noch nicht vorbei und könnte noch vor dem Bundesarbe­itsgericht landen.

 ?? Foto: Jens Kalaene, dpa ?? Viele Familien sind froh, wenn sie bei der häuslichen Pflege unterstütz­t werden. Doch immer wieder bewegen sich die Geschäfts‰ beziehunge­n in einer Grauzone – oder sogar im illegalen Bereich.
Foto: Jens Kalaene, dpa Viele Familien sind froh, wenn sie bei der häuslichen Pflege unterstütz­t werden. Doch immer wieder bewegen sich die Geschäfts‰ beziehunge­n in einer Grauzone – oder sogar im illegalen Bereich.

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