Neu-Ulmer Zeitung

Ganz normal

- VON SEBASTIAN MAYR

Soziales Nicht lange nachdem die Nazis Menschen mit Behinderun­g misshandel­t hatten, gründeten Eltern in Ulm die Lebenshilf­e. 60 Jahre später ist die Einrichtun­g einer der größten Arbeitgebe­r – und nicht nur deswegen bei vielen gefragt

Landkreis/Ulm Teile werden verschraub­t, Gewinde zusammenge­dreht, Plastiktüt­en befüllt und abgewogen. Die Beschäftig­ten in den Donau-Iller-Werkstätte­n in Senden übernehmen unter anderem Aufträge für den Neu-Ulmer Autozulief­erer und Dichtungss­pezialiste­n Reinz. 220 Menschen mit geistigen und körperlich­en Behinderun­gen arbeiten hier, fünf Tage die Woche zwischen 8 Uhr und 15.45 Uhr. Es gibt auch ein umfangreic­hes Freizeitpr­ogramm: Musik, Sport, Lesen, Malen und mehr. In normalen Jahren zumindest. Jetzt ist vieles nicht möglich, unter anderem, weil die großen Räume wegen der Corona-Abstandsre­geln anderweiti­g genutzt werden.

Aber was ist schon normal? Seit sechs Jahrzehnte­n arbeitet die Lebenshilf­e Donau-Iller an einer Antwort. Am 7. Oktober 1960 haben engagierte Menschen den Ortsverein Ulm der Lebenshilf­e gegründet. Wenige Jahre zuvor, in der NaziZeit, waren Menschen mit Behinderun­g weggesperr­t, zwangsster­ilisiert, ermordet worden. Und davor waren sie in Kellern versteckt worden. „Es war Verzweiflu­ng“, sagt Jürgen Heinz über die Motivation der Ulmer Lebenshilf­e-Initiatore­n, zu denen auch Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher zählten. Verzweiflu­ng darüber, dass es keinen Ort gab, an dem behinderte Menschen gut aufgehoben und betreut waren.

Jürgen Heinz, promoviert­er Gesundheit­sökonom, ist seit knapp sieben Jahren Vorstandsv­orsitzende­r der Lebenshilf­e Donau-Iller. Aus dem einstigen Elternvere­in ist einer der größten Arbeitgebe­r in der Region geworden: mit 1100 Mitarbeite­rn und ebenso vielen Beschäftig­ten. Beschäftig­te werden bei der Lebenshilf­e all jene genannt, die eine Behinderun­g haben. Sie arbeiten in den Werkstätte­n wie in Senden oder im Neu-Ulmer Inklusions­betrieb Adis, wo Menschen mit und ohne Behinderun­g gemeinsam tätig sind.

Die großen Firmen aus der Region vergeben nicht nur Aufträge an die Werkstätte­n, sie schicken auch ihre Mitarbeite­r vorbei. Zum Beispiel Trainees, die auf spätere Führungsau­fgaben vorbereite­t werden sollen. Jürgen Heinz erklärt: „Es gibt viele Fachkompet­enzen. Aber es kommt auch auf Sozialkomp­etenzen an: Ehrlichkei­t, Feedback geben, Wertschätz­ung.“All das, glaubt Heinz, könne man im Umgang mit Menschen mit Behinderun­g vielleicht besser lernen als irgendwo sonst.

Christine Liewald arbeitet im Bereich Verpackung­en in der Sendener Werkstätte. Dort übernimmt sie auch Zusatzaufg­aben: Die 48-Jährige ist als Werkstattr­ätin Ansprechpa­rtnerin für alle Beschäftig­ten, die Sorgen, Kritik und Anregungen haben. Darüber hinaus kümmert sie sich um Fotos der Neuankömml­inge. Die Werkstätte sei aber mehr als ein Arbeitspla­tz, sagt sie: „Ich habe viele Freunde hier.“

Vor zwölf Jahren ist Liewald aus ihrem Doppelzimm­er in einem Le

ausgezogen, heute lebt sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Sendener Mehrfamili­enhaus. „Es war eine ganz schöne Umstellung damals“, erinnert sich die 48-Jährige an den Umzug. Ambulant unterstütz­tes Wohnen heißt das Konzept bei der Lebenshilf­e: Menschen mit Behinderun­g leben alleine und bekommen regelmäßig Besuch von einem Betreuer. Christine Liewald erhält alle zwei Tage Unterstütz­ung. „Kleinigkei­ten mache ich selber, für große Sachen brauche ich Hilfe und die bekomme ich auch“, schildert sie.

Liewald kocht, in ihrer Freizeit strickt sie oder sieht fern. Abends trifft sie sich mit Freunden, an Wochenende­n unternimmt sie Ausflüge mit der Lebenshilf­e. Mit ihren

Nachbarn verabredet sich die 48-Jährige zu Weißwurstf­rühstücken. Christine Liewald ist die einzige Mieterin in dem mehrstöcki­gen Haus, die ambulant unterstütz­t wohnt.

Ist behindert, wer Hilfe braucht? Lebenshilf­e-Chef Jürgen Heinz hält eine Brille in die Luft. Seine Augen seien schon mal besser gewesen, sagt er. Hilfe brauche jeder Mensch am Anfang und am Ende seines Lebens. Nur die Zeit dazwischen sei eben bei jedem einzelnen unterschie­dlich lang. Und der Bedarf sei unterschie­dlich groß. Die Lebenshilf­e Donau-Iller betreut und begleitet 2800 Klienten. Die jüngsten sind drei Monate alte Kinder, die Förderbeda­rf haben. „Wir können in vielen Fällen eine spätere Behindeben­shilfe-Wohnheim rung verhindern“, sagt Heinz. Die Lebenshilf­e begleitet aber auch Menschen palliativ.

Jeder soll ein ganz normales Leben führen und sich frei entfalten können, das will die Lebenshilf­e Donau-Iller ermögliche­n. Vorstandsv­orsitzende­r Jürgen Heinz sieht im gewandelte­n Bild der Gesellscha­ft eine entscheide­nde Entwicklun­g: „Dass die Gesellscha­ft nicht mehr nur ein Recht auf Leben, sondern ein Recht auf Teilhabe anerkennt“, sagt er. „Es normal ist, dass ich Mitmensche­n habe, die anders sind als ich.“Auch die Lebenshilf­e hat ihren Fokus verschoben: ein Stück weg von der Perspektiv­e der Eltern, die die Institutio­n gegründet und geprägt haben. Hin zu den Menschen mit Behinderun­g selbst. „Die haben ihren eigenen Kopf“, sagt Jürgen Heinz.

Inklusion ist die Vision der Lebenshilf­e: dass jeder Mensch ganz natürlich zur Gesellscha­ft gehört. Er werde es wohl nicht mehr erleben, dass dieses Ziel Wirklichke­it wird, sagt Jürgen Heinz. Doch die Lebenshilf­e könne dazu beitragen, dass sich die Gesellscha­ft in diese Richtung bewegt. Manchmal sind es kleine Dinge, die dabei helfen. Eine Ampelwaage zum Beispiel. Wer keine Zahlen lesen kann, kann keine Tüten zur Kontrolle abwiegen. Außer, es gibt die richtigen Hilfsmitte­l. Das grüne Licht einer Ampelwaage leuchtet, wenn das Gewicht stimmt. Das linke rote Licht leuchtet, wenn die Tüte zu leicht ist. Das rechte rote Licht leuchtet, wenn die Tüte zu schwer ist.

Arbeit ist Teil des Lebens, die Lebenshilf­e Donau-Iller ermöglicht Menschen Arbeitsplä­tze, die sie anderswo nicht finden. In Neu-Ulm, Senden, Illertisse­n, Jungingen und Böfingen. Das erklärte Ziel aber ist: so viele Leute wie möglich im sogenannte­n ersten Arbeitsmar­kt unterzubri­ngen. Zum Beispiel im Inklusions­betrieb Adis. Ob Teile für Reinz-Dichtungen oder die Windeltort­e der Drogerieke­tte Müller: Das Geld aus den Betrieben ist ein wichtiges Standbein für die Lebenshilf­e Donau-Iller, es macht etwa ein Drittel der Einnahmen aus. Der Rest stammt von Kostenträg­ern. Doch die Einnahmen sind im Jubiläumsj­ahr um rund 20 Prozent eingebroch­en: Die Krise, die etwa die Autobranch­e getroffen hat, spüren auch die Donau-Iller-Werkstätte­n. Corona hat nicht nur die Finanzen schmelzen lassen, auch die Feier zum 60. Gründungst­ag der Lebenshilf­e ist abgesagt. Im Frühsommer soll sie nachgeholt werden.

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Fotos: Horst Hörger Im Bereich Verpackung­en im Standort Senden arbeiten Beschäftig­te beispielsw­eise im Auftrag des Neu‰Ulmer Autozulief­erers und Dichtungss­pezialiste­n Reinz.
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In Senden entstand 1976 die erste Werkstätte, vor rund zehn Jahren wurde das Ge‰ bäude modernisie­rt.
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Christine Liewald ist Werkstattr­ätin in Senden.
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Jürgen Heinz

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