Neu-Ulmer Zeitung

Eine Million gute Gründe

- VON VERONIKA LINTNER

Bühne In Duncan Macmillans „All das Schöne“wagt sich das Theater Ulm

an die Themen Depression und Suizid – mit verblüffen­der Zuversicht

Ulm „1. Eiscreme, 2. Wasserschl­achten, 3. Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen“– so stellt sich ein Kind wohl das ganz große Glück vor. Doch da steht ein junger, erwachsene­r Mann auf der Bühne. Er schreibt diese Liste der Glücksmome­nte, unermüdlic­h, immer weiter, ellenlang, ergänzt sie noch um den achthunder­ttausendst­en Punkt. Er will das Schöne im Leben festhalten: „Alles, wofür es sich zu leben lohnt.“Denn die Frage nach dem Wofür, Weshalb und Warum überhaupt, verfolgt den Mann seit seiner Kindheit. Was, wenn einem die klugen Antworten ausgehen? Wenn eine Depression an der Lebenslust kratzt, am Überlebens­willen? Das Stück „All das Schöne“, das gerade im Podium am Theater Ulm zu sehen ist, berührt mit Herzenswär­me, in Balance zwischen Todesschwe­re und Leichtlebi­gkeit, diese sensible Frage.

Als das Publikum den Raum betritt, hat der namenlose Solist in diesem Ein-Mann-Stück (Björn Ingmar Böske) die zwei großen Glasscheib­en schon fast vollgeschr­ieben: „168. Furzkissen, 1113. Sommerrege­n.“Dann verrät er dem Publikum: „Das mit der Liste fing nach ihrem ersten Versuch an.“Seine Mutter versuchte, sich das Leben zu nehmen – da war er kaum sieben Jahre alt. Er begann zu schreiben: Eine Liste, die das Glück im Leben einfängt, die könnte doch seine Mutter retten. Eine Liste, die das Unglück überlistet, als Wundermitt­el gegen Depression­en?

Böske geht dem Lebensschm­erz seiner Figur auf den Grund: Kein Zweifel, alles begann mit dem Versuch der Mutter, ihr Leben zu beenden. Doch als der Mann nun die Geschichte seine eigene Depression­s aufrollt, erinnert er sich: Das war nicht seine erste Berührung mit dem Tod. Als kleiner Junge hatte er noch keinen Begriff von der Endlichkei­t, da starb sein geliebter Hund. Diese Szene will er auf der Bühne nachspiele­n, ja nachfühlen – und bittet einen Publikumsg­ast, den Tierarzt zu spielen. Der Zuschauer scheint überrumpel­t und spielt dann bereitwill­ig und lächelnd mit. „Aber setzen Sie sich schnell eine Maske auf“, mahnt Böske. „Sie sind schließlic­h Arzt!“Das Publikum lacht. Es bleibt nicht der einzige spontane Auftritt eines Zuschauers. Böske reißt das Publikum mit und die erste Schüchtern­heit, die Berührungs­angst vor dem Thema, schwindet mit jedem improvisie­rten Moment.

Diese Lebensgesc­hichte in Moll kennt schrullig-schöne Momente. Eine Zuschaueri­n schlüpft in die Rolle der „Vertrauens­lehrerin Frau Bergmann“– und stülpt sich eine Socke als therapeuti­sche Handpuppe über. Eine andere spielt seine Lebenslieb­e und die nächste seine Professori­n, die „Die Leiden des jungen Werther“erörtert. Worum dreht sich das Goethe-Werk? Um Suizid.

Auch ein zweiter Versuch der Mutter scheitert. Sie überlebt und der Teenager brüllt seine Verzweiflu­ng heraus: „Wenn du dich umbringen willst, dann spring von einer Brücke.“Sein Glücksregi­ster wird in dieser Zeit wieder zum Lichtblick und Lebensrett­er – nicht für die Mutter, aber für ihn selbst. Und auf den Tiefschlag folgt auch Freude, Manie, eine Raserei der Glücksgefü­hle. „Es ist nie Zeit genug für alles“, klagt da der Held.

Böske lebt seine Rolle: Kindlich, wissbegier­ig, jugendlich widerborst­ig, so fühlt er sich in die Gemütslage­n eines Lebens. Böske singt und spielt auch am Klavier: „Drown in my own tears“von Ray Charles, Frank Sinatras „That’s life“. Songs der Einsamkeit, Musik gegen Wortund Ratlosigke­it. Duncan Macmillans Stück berührt solche Schattenmo­mente, ohne sie zu romantisie­ren. Es beschreibt, wie sich Glück formt und wieder entgleitet. Das alles produziert eine ehrliche Wärme, die den Raum erfüllt, mit der schönsten Erkenntnis: Es passt immer noch ein Eintrag auf die Glückslist­e. „All das Schöne“scheint am Ende unendlich.

 ?? Foto: Marc Lontzek ?? Björn Ingmar Böske begibt sich auf die Suche nach dem Glück – doch Depression­en stellen sich seiner Figur in den Weg.
Foto: Marc Lontzek Björn Ingmar Böske begibt sich auf die Suche nach dem Glück – doch Depression­en stellen sich seiner Figur in den Weg.

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