Eine Million gute Gründe
Bühne In Duncan Macmillans „All das Schöne“wagt sich das Theater Ulm
an die Themen Depression und Suizid – mit verblüffender Zuversicht
Ulm „1. Eiscreme, 2. Wasserschlachten, 3. Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen“– so stellt sich ein Kind wohl das ganz große Glück vor. Doch da steht ein junger, erwachsener Mann auf der Bühne. Er schreibt diese Liste der Glücksmomente, unermüdlich, immer weiter, ellenlang, ergänzt sie noch um den achthunderttausendsten Punkt. Er will das Schöne im Leben festhalten: „Alles, wofür es sich zu leben lohnt.“Denn die Frage nach dem Wofür, Weshalb und Warum überhaupt, verfolgt den Mann seit seiner Kindheit. Was, wenn einem die klugen Antworten ausgehen? Wenn eine Depression an der Lebenslust kratzt, am Überlebenswillen? Das Stück „All das Schöne“, das gerade im Podium am Theater Ulm zu sehen ist, berührt mit Herzenswärme, in Balance zwischen Todesschwere und Leichtlebigkeit, diese sensible Frage.
Als das Publikum den Raum betritt, hat der namenlose Solist in diesem Ein-Mann-Stück (Björn Ingmar Böske) die zwei großen Glasscheiben schon fast vollgeschrieben: „168. Furzkissen, 1113. Sommerregen.“Dann verrät er dem Publikum: „Das mit der Liste fing nach ihrem ersten Versuch an.“Seine Mutter versuchte, sich das Leben zu nehmen – da war er kaum sieben Jahre alt. Er begann zu schreiben: Eine Liste, die das Glück im Leben einfängt, die könnte doch seine Mutter retten. Eine Liste, die das Unglück überlistet, als Wundermittel gegen Depressionen?
Böske geht dem Lebensschmerz seiner Figur auf den Grund: Kein Zweifel, alles begann mit dem Versuch der Mutter, ihr Leben zu beenden. Doch als der Mann nun die Geschichte seine eigene Depressions aufrollt, erinnert er sich: Das war nicht seine erste Berührung mit dem Tod. Als kleiner Junge hatte er noch keinen Begriff von der Endlichkeit, da starb sein geliebter Hund. Diese Szene will er auf der Bühne nachspielen, ja nachfühlen – und bittet einen Publikumsgast, den Tierarzt zu spielen. Der Zuschauer scheint überrumpelt und spielt dann bereitwillig und lächelnd mit. „Aber setzen Sie sich schnell eine Maske auf“, mahnt Böske. „Sie sind schließlich Arzt!“Das Publikum lacht. Es bleibt nicht der einzige spontane Auftritt eines Zuschauers. Böske reißt das Publikum mit und die erste Schüchternheit, die Berührungsangst vor dem Thema, schwindet mit jedem improvisierten Moment.
Diese Lebensgeschichte in Moll kennt schrullig-schöne Momente. Eine Zuschauerin schlüpft in die Rolle der „Vertrauenslehrerin Frau Bergmann“– und stülpt sich eine Socke als therapeutische Handpuppe über. Eine andere spielt seine Lebensliebe und die nächste seine Professorin, die „Die Leiden des jungen Werther“erörtert. Worum dreht sich das Goethe-Werk? Um Suizid.
Auch ein zweiter Versuch der Mutter scheitert. Sie überlebt und der Teenager brüllt seine Verzweiflung heraus: „Wenn du dich umbringen willst, dann spring von einer Brücke.“Sein Glücksregister wird in dieser Zeit wieder zum Lichtblick und Lebensretter – nicht für die Mutter, aber für ihn selbst. Und auf den Tiefschlag folgt auch Freude, Manie, eine Raserei der Glücksgefühle. „Es ist nie Zeit genug für alles“, klagt da der Held.
Böske lebt seine Rolle: Kindlich, wissbegierig, jugendlich widerborstig, so fühlt er sich in die Gemütslagen eines Lebens. Böske singt und spielt auch am Klavier: „Drown in my own tears“von Ray Charles, Frank Sinatras „That’s life“. Songs der Einsamkeit, Musik gegen Wortund Ratlosigkeit. Duncan Macmillans Stück berührt solche Schattenmomente, ohne sie zu romantisieren. Es beschreibt, wie sich Glück formt und wieder entgleitet. Das alles produziert eine ehrliche Wärme, die den Raum erfüllt, mit der schönsten Erkenntnis: Es passt immer noch ein Eintrag auf die Glücksliste. „All das Schöne“scheint am Ende unendlich.