Neu-Ulmer Zeitung

Ein Autor zum Ausleihen

- VON ANDREAS BRÜCKEN

Living Libary

Neu-Ulms Stadtbüche­rei „verleiht“Gesprächsp­artner

Neu‰Ulm Die Ruhe und Stille einer Bücherei ist sprichwört­lich. Nicht so in Neu-Ulm am Tag der „lebendigen Bücher“, oder auf Neudeutsch: „Living Libary“. Mit dieser Aktion im Rahmen der interkultu­rellen Woche 2020 sollen interessan­te Persönlich­keiten Bände sprechen dürfen.

Wie in einer normalen Bibliothek erhalten die Leser einen Medienkata­log – nur nicht für Bücher, sondern für Gesprächsp­artner. Auch Hady Jako hat sich bereit erklärt, über seine Lebensgesc­hichte zu berichten. Als Flüchtling kam der 35-Jährige 2009 aus dem Irak nach Deutschlan­d. Offensicht­lich ist seine Verletzung durch den fehlenden linken Arm – vor 14 Jahren wurde Jako das Opfer eines Selbstmord­attentäter­s. „Die Helfer haben mich für tot erklärt und mich schon in einen Leichensac­k eingepackt, bis ein Arzt zufällig ein Lebenszeic­hen von mir bemerkte.“In seinem Buch „Explosion – und dann“, das in Kürze erscheinen soll, schreibt Jako über sein Leben nach dem Anschlag: Den Repressali­en, die er als Jeside in seiner Heimat erfahren musste, der Flucht nach Deutschlan­d und seiner Integratio­n in Neu-Ulm. Hier arbeitet Jako seit vier Jahren als Betreuungs­assistent in einem Seniorenhe­im, ist in seiner Freizeit begeistert­er Marathonlä­ufer und hilft anderen Flüchtling­en bei der Einglieder­ung. Von einem Happy End will Jako dennoch nicht sprechen: „Ich habe alles verloren“, sagt er und erzählt unter Tränen von seiner Mutter, die noch immer in einem Flüchtling­scamp lebt.

Im wahrsten Sinne eine leichtere Kost in der „Living Libary“verspricht Barbara Stroß, die es geschafft hat, ihr ehemaliges Gewicht von 130 Kilogramm auf die Hälfte zu reduzieren. Auf die Frage, wie man schnell und einfach zum Wunschgewi­cht kommen könne, winkt die 50-Jährige ab: „Man muss die innere Bereitscha­ft haben, sein Leben zu ändern, um diesen langfristi­gen Prozess durchzuste­hen.“Etwa zehn Jahre habe sie selbst an sich gearbeitet, um dort anzukommen, wo sie heute ist: „Ich habe mich mit einem Fitnessstu­dio selbststän­dig gemacht und betreue sowohl Menschen mit Übergewich­t als auch Ausdauersp­ortler.“

Um Kirche, Gott und Glauben drehen sich die Gespräche mit Elisa Kreuzer. Die 39-jährige Klostersch­wester will aber niemanden bekehren, wie sie versichert. Stattdesse­n freue sie sich auf kritische Fragen: „Ich hoffe, die Leute trauen sich, heikle Themen anzusprech­en, weil es mich interessie­rt, was die Menschen bewegt.“Die „Living Libary“sei eine tolle Idee, die ihre Neugier geweckt habe, sagt Kreuzer.

Unter den 10 menschlich­en Büchern ist auch Neu-Ulms Oberbürger­meisterin Katrin Albsteiger zu finden, die als Mutter und Rathausche­fin Rede und Antwort steht. Besucherin Guixia Liu macht nach dem halbstündi­gen Gespräch aus ihrer Bewunderun­g kein Geheimnis: „Ich finde es toll, wie sie ihrer Verantwort­ung gegenüber ihrer Familie und ihrem Amt nachkommt.“Achtung habe aber auch Albsteiger­s Ehemann verdient, sagt Liu weiter: „Dieser Rollentaus­ch ist ein Zeichen für den Fortschrit­t.“Der Bürgermeis­terin ganz privat gegenüberz­usitzen sei „anfangs aufregend“gewesen, erklärt die Besucherin und erzählt, dass Albsteiger jedoch im Gespräch „sehr nett und aufgeschlo­ssen“sei.

 ?? Foto: Andreas Brücken ?? Die erschütter­nde Geschichte von Hady Jako erscheint als Buch. In der „Living Libary“erzählt er aus seinem Leben, Stephanie Evertz unterstütz­t ihn.
Foto: Andreas Brücken Die erschütter­nde Geschichte von Hady Jako erscheint als Buch. In der „Living Libary“erzählt er aus seinem Leben, Stephanie Evertz unterstütz­t ihn.

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