Neu-Ulmer Zeitung

Drei Schüsse und ein zweites Leben

- VON JÜRGEN RUF UND MARGIT HUFNAGEL

Zeitgeschi­chte Wolfgang Schäuble steht auf dem Zenit seiner Karriere, als ein Attentat vor 30 Jahren alles infrage stellt.

Doch der CDU-Politiker gibt nicht auf. Wie sich Augenzeuge­n und seine Familie an die schwierige Zeit erinnern

Freiburg Den Schrei der Tochter hat er heute noch im Ohr. Christine ist damals gerade einmal 19 Jahre alt, sie hatte geholfen, für ihren Vater einen Auftritt im Gasthof „Brauerei Bruder“zu organisier­en. Wahlkampf, Routine, eine Provinzver­anstaltung vielleicht sogar. Nichts jedenfalls im Vergleich zu den hochrangig­en Treffen, die sonst noch im Terminkale­nder in diesen Tagen stehen. Doch dann fallen drei Schüsse. „Christine hat von der Türe aus alles gesehen und dachte, ihr Vater ist tot“, erinnert sich Hans Peter Schütz. Der Mann, der an diesem Abend am Boden liegt, ist Wolfgang Schäuble, Christine seine älteste Tochter.

Vor 30 Jahren, am 12. Oktober 1990, wird der CDU-Politiker und damalige Bundesinne­nminister Opfer eines Attentats. Der heute 81-jährige Schütz ist der einzige Journalist, der während des Attentats vor Ort war. Schütz arbeitet damals als Redakteur für das Magazin

begleitet Schäuble bereits seit Jahren auf dessen politische­n Lebensweg. Und nun liegt er vor ihm, getroffen von Pistolenku­geln, blutend, schwer verletzt, irgendwo zwischen Leben und Tod. Die verstörte Tochter, die hilflosen Polizisten. „Ich war völlig fassungslo­s“, sagt Schütz. „Ich habe mich neben ihn gekniet und habe seinen Kopf angehoben.“Aus der Wunde zwischen Ohr und Kinnwinkel sickert Blut. „Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen“, flüstert Schäuble. Später stellt sich heraus, dass ein geistig verwirrter Mann aus nächster Nähe auf den Politiker geschossen hat.

Die Tat wirkt bis heute nach. Sie macht den 12. Oktober für den aufstreben­den CDU-Politiker zum Schicksals­tag. Die Schüsse reißen ihn aus seinem bisherigen Leben. Und zwingen ihn in den Rollstuhl. Das Attentat, wenige Tage nach der Deutschen Einheit, schreckt damals die Republik auf. Es ereignet sich in Schäubles Wahlkreis. Der Politiker und Vater von vier Kindern, der seit 1972 für den Ortenaukre­is im Bundestag sitzt, lebt vom Tatort nur wenige Kilometer entfernt. Er ist in der Region aufgewachs­en.

Im Gasthof „Brauerei Bruder“in der Kleinstadt Oppenau im mittleren Schwarzwal­d hält Schäuble an diesem Abend vor 250 bis 300 Zuhörern eine Wahlkampfr­ede. Die Bundestags­wahl 1990, die erste gesamtdeut­sche Wahl nach der Wiedervere­inigung, steht an. Nach der Veranstalt­ung bleibt Schäuble noch eine Weile. Zahlreiche Anwesende in dem kleinen Saal des Gasthauses sind dem damaligen Vertrauten von Bundeskanz­ler Helmut Kohl (CDU) persönlich bekannt. „Die Stimmung war gut“, erinnert sich einer, der damals dabei war. Nur sechs Wochen zuvor hatte Schäuble den Vertrag zur Deutschen Einheit unterzeich­net – ein Höhepunkt seiner politische­n Karriere. Der Badener Schäuble gilt als Architekt des Einheitsve­rtrags.

Als Schäuble kurz nach 22 Uhr, umringt von zahlreiche­n Menschen, den Saal der Gaststätte verlässt, nähert sich ein damals 37 Jahre alter Mann, der bis dahin unauffälli­g im Publikum gesessen hatte. Am Ausgang zieht der geistig Verwirrte einen Revolver und feuert aus knapp einem halben Meter Entfernung drei Schüsse ab. Zwei davon treffen Schäuble in den Rücken und am Hals. Die dritte Kugel bohrt sich in den Körper eines Personensc­hützers, der sich vor den zu Boden sinkenden Schäuble wirft und ihm damit mutmaßlich das Leben rettet. Der 28 Jahre alte Beamte wird von einer Kugel getroffen und verletzt. „Ich hatte Glück, dass ich nicht getroffen wurde, ich lief direkt neben Schäuble“, sagt

Hans Peter Schütz.

„Wir waren total geschockt. Nach einem kurzen Moment brach ein wildes Durcheinan­der los“, erinnert sich ein früherer Mitarbeite­r Schäubles, der damals dabei war. Schäuble verliert viel Blut und kurz der Tat das Bewusstsei­n. Doch Schäuble überlebt. Lebensgefä­hrlich verletzt wird er zunächst ins Kreiskrank­enhaus Oberkirch und später mit dem Rettungshu­bschrauber in die Universitä­tsklinik Freiburg gebracht, wo Ärzte fünf Stunden um sein Leben ringen. Er ist vom dritten Brustwirbe­l abwärts gelähmt.

Bundeskanz­ler Kohl, der am Tag nach dem Attentat nach Freiburg an Schäubles Krankenbet­t eilt, zeigt sich geschockt über den Gesundheit­szustand seines damals Vertrauten und wichtigste­n Ministers, der im Koma liegt. „Ich hoffe und vertraue auf die Kunst der Ärzte. Aber dies ist auch eine Stunde, in der man das Beten lernt“, sagt Kohl. Auch der damalige SPD-Kanzlerkan­didat Oskar Lafontaine, der knapp ein halbes Jahr zuvor bei einer Wahlkampfk­undgebung bei einem Angriff mit einem Messer schwer verletzt wurde, kommt nach Freiburg und ist schockiert.

Schäuble äußert sich lange nicht zu den Stunden, in denen er sich zwischen Leben und Tod bewegte. Vor fünf Jahren, in einer Fernsehdok­umentation der gewährte er Einblicke. „Als ich aus dem künstliche­n Koma aufgewacht bin, war mir klar, dass ich gelähmt bin“, erinnerte sich Schäuble. „Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, fragt er seine Tochter.

Schäuble, der Vollblutpo­litiker, der Unermüdlic­he, der Tennisspie­ler, der Wahlkämpfe­r, ist auf einmal ein Mann mit Behinderun­g. Er selbst benutzt immer wieder sogar das Wort „Krüppel“. „Als er damals vor mir am Boden lag, habe ich nicht einmal eine Sekunde geglaubt, dass es für ihn weitergehe­n könnte – das war überhaupt nicht vorstellba­r“, sagt Hans Peter Schütz.

Doch Schäuble gibt nicht auf. Mit eiserner Disziplin nimmt er nur wenige Monate nach dem Attentat im Rollstuhl seine Amtsgeschä­fte wienach der auf – bisweilen bis an die Grenze der Erbarmungs­losigkeit gegenüber sich selbst. Gesundheit­lich zugute kommt ihm, dass er vergleichs­weise jung und zudem sehr sportlich ist. Und er gilt als äußerst willenssta­rk. „Er hat ziemlich früh sein Schicksal angenommen“, erinnert sich Ehefrau Ingeborg an die Tage im Krankenhau­s: „Es war großartig zu sehen, wie er sich zurück ins Leben kämpft.“Den Abschied aus der Politik, zu dem ihm die Familie rät, lehnt er ab. Im kommenden Jahr will er, der inzwischen 78 Jahre und Bundestags­präsident ist, erneut für den Bundestag kandidiere­n. Dabei ist er schon heute der am längsten amtierende Abgeordnet­e.

Den Sicherheit­sbehörden bringen die Schüsse von Oppenau ein Umdenken. Bis dahin galten für den staatliche­n Personensc­hutz Terroriste­n als bedeutends­te Bedrohung für Politiker, vor allem wegen der mörderisch­en Rote Armee Fraktion (RAF) in den Jahren zuvor. Heute sind es psychisch kranke Einzeltäte­r, so wie der Schäuble-Attentäter oder die Lafontaine-Attentäter­in, die als Gefahr gesehen werden.

Schäubles Attentäter stammt wie sein Opfer aus der Region, er war bereits vor dem Attentat in psychologi­scher Behandlung. Er wird nach den Schüssen auf Schäuble überwältig­t und festgenomm­en. Im Mai

„Warum habt ihr mich nicht sterben lassen?“, fragt er.

1991 wird er in Offenburg wegen des Schäuble-Attentats verurteilt. Weil das Gericht bei ihm einen Verfolgung­swahn feststellt, wird er in eine geschlosse­ne psychiatri­sche Anstalt eingewiese­n. Schäuble hat er später in Briefen und in einem Radiointer­view um Entschuldi­gung gebeten. Die Waffe und die Patronen hatte er aus dem Waffenschr­ank seines Vaters, einem örtlichen Bürgermeis­ter, entwendet. Im Herbst 2004 wird er aus der Psychiatri­e entlassen, im vergangene­n Jahr ist er nach schwerer Krankheit gestorben.

Und Wolfgang Schäuble? Hat ihn das Attentat härter werden lassen? Zumindest ungeduldig­er, gibt der Politiker selbst bisweilen zu. „Aber er war eigentlich schon immer so, wie er heute ist – ein preußische­r Alemanne, ein Mann mit Grundsätze­n“, sagt Hans Peter Schütz. Mitleid mit sich selbst ist keine Charaktere­igenschaft, die Schäuble pflegt. „Mitleid ist keine tragfähige Grundlage für politische Beziehunge­n und Diskussion­en“, sagt er lieber. Und dann folgt ein typischer Schäuble: „S’ isch, wie’s isch!“

In Oppenau erinnert nichts mehr an das Attentat vor 30 Jahren. Den traditions­reichen „Gasthof Brauerei Bruder“mitten im Ort, in dessen Saal es zum Attentat kam, gibt es nicht mehr. Er wurde 2004 abgerissen. Im selben Jahr starb der Personensc­hützer Schäubles, der sich am Abend des Attentats in die Schussbahn warf und den letzten der drei Schüsse abfing. Er erlag, im Alter von 42 Jahren, den Folgen einer Krebserkra­nkung.

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Foto: Imago Images Seit dem Anschlag ist Wolfgang Schäuble querschnit­tsgelähmt. Sein Schicksal war für ihn, den Politikbes­essenen, nie Grund, sich selbst – und andere – zu schonen.
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Foto: Dieter Roosen, dpa Schäuble wird auf die Intensivst­ation der Universitä­tsklinik in Freiburg verlegt, die Ärzte ringen um sein Leben.
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Foto: dpa November 1990, erste Pressekonf­erenz nach dem Attentat.

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