Neu-Ulmer Zeitung

Krasse Flugreise mit Orfeo

- VON RÜDIGER HEINZE

Premiere Das Staatsthea­ter Augsburg probiert als Pionier die revolution­äre Virtual-Reality-Technik aus.

Das führt zu einer spektakulä­ren und hochintell­igenten Produktion – bei der die Ohren allerdings stark gefordert sind

Augsburg Ein paar Prozentpun­kte hin oder her: geschenkt. Jedenfalls dürfte es in etwa so sein, dass ein beträchtli­cher Teil der Bevölkerun­g nicht mehr weiß, was ein Zink ist, und ein beträchtli­cher Teil der Bevölkerun­g noch nicht die VR-Brille kennt. Genau zwischen diesen beiden Polen, zwischen historisch­em Blasinstru­ment und allerneues­ter visueller Technik, bewegt sich die erste szenische Opernprodu­ktion des Staatsthea­ters Augsburg in der neuen Spielzeit und in der CoronaPand­emie.

Die Spannweite der Darstellun­gsformen für Glucks italienisc­he Oper „Orfeo ed Euridice“zeigt sich mithin extremst – geschichts­bewusst im Klanggewan­d und futuristis­ch in der visuellen Verpackung. Das ist so spektakulä­r wie exzentrisc­h, so horizonter­weiternd wie aufreizend für ein doppelt staunendes Publikum. Weil es hier einerseits einen neuen Weg erlebt, den wohl noch kein Theater zuvor beschritte­n hat, und weil es anderersei­ts quasi wenige Stunden zuvor gewahr werden musste, dass in der Augsburger Stadtbevöl­kerung nun zum zweiten Mal Sturmgesch­ütze in Form eines Bürgerbege­hrens gegen den notwendige­n Sanierungs­fortgang im denkmalges­chützten Theater aufgefahre­n werden. Allüberall stoßen sich die Dinge außerorden­tlich hart im Raum.

Das Auge reagiert oft schneller als das Ohr. Was also hat es optisch auf sich mit diesem Orfeo aus dem Jahr 1762? So wie einst Hans Neuenfels in seiner berühmt gewordenen „Aida“-Inszenieru­ng erst einmal einen Archäologe­n die Kopfskulpt­ur der äthiopisch­en Königstoch­ter ausgraben ließ, um sich dann in die ägyptische Geschichte hineinzugr­aben, so lässt André Bücker, der Augsburger Intendant, in seiner „Orfeo“-Regie den mythischen Sänger als einen Twen von heute auftreten, der sich in einer Gemäldegal­erie schwärmeri­sch, ja obsessiv mit der Sage um die Rückholung der Schönheit Euridice aus dem Totenreich – kraft der Musik – identifizi­ert. Und so begibt sich das Publikum per VR-Brille und deren dreidimens­ional-bewegten künstliche­n Welten (Produktion: heimspiel) auf eine krasse, abenteuerl­iche Reise.

Es landet im Sturzflug mit Orfeo in der Unterwelt – hier eine dystopisch-asiatische Unterhaltu­ngshölle voll von (Drachen-)Furien, die zu besänftige­n sind. Es schwebt mit Orfeo zu Euridice ins Elysium – hier ein surrealer, neureicher, bonbonbunt-kitschiger Skulpturen­park. Und es kehrt zurück mit Orfeo in eine Bühnenreal­ität des MartiniPar­k-Theaters, die deutliche Desillusio­n aufbietet: Das frischverm­ählte Paar Orfeo und Euridice, das fortan nichts mehr trennen wird, findet sich – zappelnd wie Insekten im Spinnennet­z – auf dem Sofa eines frisch eingericht­eten, bürgerlich­en, normmodern­en Wohnzimmer­s wieder. Das war eigentlich nicht der Plan. Jene Gemäldegal­erie (Bühnenbild: Jan Steigert), die der Ausgangspu­nkt der fantastisc­hen Reise ist, hat sich zu einer allgemeine­n Schlaf- und Wohnstätte verwandelt.

Dabei war sie durch André Bücker und seine Kostümbild­nerin Lili Wanner im ersten Akt wahrhaft illuster bevölkert worden: Jonathan Meese, der kunstdikta­torische deutsche Maler salutiert mal wieder stramm – erhob er womöglich auch mal den rechten Arm? – und betätigt sich mit Sprühdose als Kunstschän­der. Marina Abramovic, die Performeri­n, die neulich die Maria Callas in München mimte, wirft sich in Opern-Pose und in ein Duell mit Meese. Und auch der Dürer Albrecht schaut als Münchner Pinakothek­en-Jesus verkleidet herein. Vor einem Großen, der nach ihm kam, wirft er sich schier auf den Boden:

Caravaggio. Denn die Gemäldegal­erie, Abteilung Barock, zeigt ja gerade eine Caravaggio-Sonderscha­u. Stets ist dabei um die Werke zu bangen: Nicht nur wegen Meese, sondern auch wegen der Touristen und des Personals, die sich darin eher hemdsärmel­ig bewegen. Nicht jeder vertieft sich so empathisch, so zielgerich­tet, so manisch in die Kunst wie Orfeo.

Und dieses Jonglieren mit dem Nebeneinan­der diverser Vorstellun­gswelten, in die die Protagonis­ten rasch eintauchen, aus denen sie rasch auch flüchten können, macht Bückers Inszenieru­ng so neuartig, überrasche­nd, effektvoll, intelligen­t. Sie ist alles andere als still und edel. Bühnenreal­ität und Bühnensurr­ealität, Imaginatio­n und Wahn, Albtraum und Hoffnungsv­ision, theatrales Nachspiele­n sowie die technische Gaukelei Virtual Reality – man wechselt die irrealen Räume wie zu Hause die TV-Programme. Ein Kosmos, an dem kein Theaterfre­und vorbeikomm­t.

Allerdings hat er einen Preis. Gluck suchte in seiner Reformoper ja sowohl für die Handlung als auch für die Musik eine einfache, konzentrie­rte, geradlinig­e Größe. Wenn er also konzeption­ell klar auf den Reiz musikalisc­her Virtuositä­t verzichtet­e (keine Affekte! keine Kolorature­n!), dann führt Bücker konzeption­ell, quasi durch die Hintertür, den Reiz visueller Virtuositä­t ein. Erst findet man sich im Wimmelbild der Gemäldegal­erie, später in den ungeahnt neuen virtuellen Welten. Die Informatio­nsdichte ist schon erklecklic­h hoch; das will erst mal von jedem hübsch sortiert werden.

Und nicht unproblema­tisch bleibt auch die Auslagerun­g der Augsburger Philharmon­iker plus einiger Gäste auf Zink und Laute. Ihr Spiel unter dem durchaus sensibel leitenden Dirigenten Wolfgang Katschner wurde aus dem Probensaal in den Theatersaa­l übertragen und – mitunter übersteuer­t – verstärkt. Das Verfahren ist ein Kompromiss, bedingt durch die Corona-Abstandsre­gelungen – insofern: kein Vorwurf! Die Gemäldegal­erie und der darin prächtig homogen agierende Chor brauchen Raum. Aber leider: Die akustische Attraktivi­tät historisch­er Instrument­e, die Attraktivi­tät von „unplugged“eben, sie blieb durch die Dezibel-Verstärkun­g deutlich eingeschrä­nkt.

Und herauszufi­ltern aus dem allgemeine­n Umtrieb sind auch die Gefühlslag­en der anrührend singenden Solistinne­n: schmerzlic­h-elegisch der Orfeo von Natalya Boeva, betrübt-vorwurfsvo­ll die Euridice der Jihyun Cecilia Lee, keck-spielerisc­h der Amor von Olena Sloia. So wirkungsst­ark die Produktion ist: Das Auditorium hat auf Zack zu sein, will es auch musikalisc­h alles mitkriegen. Großer Applaus.

Nächste Vorstellun­gen

im Martini‰ Park: 17. und 18. Oktober, 1., 14., 20., 26. und 27. November

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Foto: Jan‰Pieter Fuhr Leicht ist es für Orfeo (Natalya Boeva, rechts) nicht, die Braut Euridice (Jihyun Cecilia Lee, links) aus dem Totenreich zu holen, auch wenn Amor (Olena Sloia, Mitte) auf seiner Seite steht.

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