Agrarreform: Großer Wurf oder verpasste Chance?
Europa Die Ministerin spricht von einem Systemwechsel, doch es gibt massive Kritik
Brüssel/München/Berlin Es war eine schwere Geburt – und doch mischt sich in die Freude über das, was da auf dem Tisch liegt, bereits jetzt Enttäuschung: Die Agrarreform der Europäischen Union erntet heftige Kritik. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner hingegen freute sich nach zweitägigen Verhandlungen über einen „Systemwechsel“. Der Deutsche Bauernverband sprach von einem „notwendigen und letztendlich auch tragbaren europäischen Kompromiss“.
Tatsächlich gibt es eine gute Nachricht für die Landwirte: Entgegen aller Befürchtungen bleibt der Agrar-Etat mit 387 Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027 ungekürzt. Lange war befürchtet worden, der größte Ausgabenposten der Union werde wegen des Austrittes der Briten aus der EU um rund fünf Prozent zusammengestrichen. Doch erneut dürften vor allem Großbetriebe und Agrarkonzerne profitieren, auf die schon bisher in Deutschland rund 4,8 Milliarden Euro der jährlich gut sechs Milliarden an Direktzahlungen entfallen. Lediglich rund sechs Prozent der nationalen Gelder sollen für kleine und mittelständische Betriebe reserviert werden. Eine Änderung gibt es bei der Vergabe der Gelder: Nicht mehr die Brüsseler EU-Kommission, sondern die Mitgliedstaaten erstellen Pläne. Diese müssen vorgegebene Ziele erreichen – unter anderem in den Punkten Erhaltung der Natur, Klimaschutz und Sicherung der Lebensmittelqualität.
„Wir haben eine neue Agrarpolitik, auf die wir uns geeinigt haben“, sagte Ministerin Klöckner. Nicht nur die Grünen sehen das völlig anders. „Die Fördergelder, die an Umweltauflagen geknüpft sind, sind spärlich und anders als bisher für die Mitgliedsländer freiwillig“, sagte der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold unserer Redaktion.
Was Klöckner als Systemwechsel verkauft, ist schlichtweg ein Etikettenschwindel“, so Giegold. „Gut zwei Drittel der Fördergelder sollen wie bisher ohne nennenswerte Umweltauflagen nach Anbaufläche verteilt werden“, betonte er. „Davon profitieren vor allem die großen Betriebe, kleine und mittlere Betriebe werden weiter benachteiligt. So wird sich das Höfe-Sterben in Europa fortsetzen“, fügte er hinzu.
Klöckner lobte zudem die 20-Prozent-Regel, wonach ein Fünftel der milliardenschweren EU-Direktzahlungen an die Landwirte verbindlich für Umwelt- und Klimamaßnahmen (Eco Schemes) eingesetzt werden müssen. Der WWF Deutschland kritisierte diesen Ansatz als viel zu niedrig und forderte 50 Prozent.
Der Deutsche Bauernverband hält die Kritik von Naturschützern für unbegründet. Dies entbehre „jeder Grundlage“, so Bauernpräsident Joachim Rukwied. „Der Weg zu einer grüneren Agrarpolitik geht weiter und bringt für die Landwirte neue Herausforderungen, denen wir uns stellen.“Rückendeckung erhält er von Bayerns Landwirtschaftsministerin Michaela Kaniber. „Politik braucht einen Kompromiss, auch bei dieser Reform jetzt“, sagt die CSU-Politikerin. „Wir können nicht mit Gewalt anordnen, dass jetzt jeder Bauer in Europa nur noch ökologisch wirtschaftet.“
Was der Kompromiss von Luxemburg wirklich wert ist, muss sich in den nächsten Wochen zeigen. Denn die Mitgliedstaaten brauchen die Zustimmung des EU-Abgeordnetenhauses, um die Agrarwende verabschieden zu können. Mit einem Beschluss wird im ersten Quartal 2021 gerechnet – zu spät, damit die Maßnahmen bereits am Jahresanfang in Kraft treten. Europas neue, grüne Agrarpolitik tritt mit großer Verspätung in Kraft.
Eine Bewertung der Reform lesen Sie auf das Interview mit Ministerin Kaniber in der Politik.