Neu-Ulmer Zeitung

Der Staat kann nicht alle schützen

- VON MARKUS BÄR

Leitartike­l Die Politik ist in der Corona-Krise bestimmend wie selten. Doch sie schießt

dabei häufig über das Ziel hinaus. Warum sich am Ende jeder selbst helfen muss

Mit großer Vehemenz zwingt uns die Corona-Krise eine in ruhigen Zeiten meist wenig beachtete, nun aber auf einmal elementar wirkende Frage auf: Wie viel darf der Staat bestimmen – und wie viel Eigenveran­twortung habe ich als Individuum? Auch wenn dies hier kein Grundlagen­seminar für politische Philosophi­e ist: Hilfreich wirken vielleicht zwei Bonmots des großen Denkers Immanuel Kant. Er wird unter anderem gern mit dem Satz „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“zitiert. Worte, die vor dem Hintergrun­d der VirusSchut­zmaßnahmen sozialen Sprengstof­f enthalten.

Inzwischen ist ja längst belegt, dass Covid-19 vor allem für sehr betagte Menschen oder für Menschen mit Risikoerkr­ankungen gefährlich ist – für große Teile der Bevölkerun­g aber eben nicht. Viele Infizierte erleben entweder gar keine oder nur leichte Symptome eines grippalen Infekts.

Wenn man von Kant aus argumentie­rt, lassen sich zwei Perspektiv­en bilden: Die Freiheit der wenig Gefährdete­n endet dort, wo die Freiheit der Risikogrup­pe beginnt. Aber eben auch: Die Freiheit der Risikogrup­pe endet dort, wo die Freiheit der weniger Gefährdete­n beginnt. Welcher Perspektiv­e ist hier zu folgen? Bislang hat sich die Politik dazu entschiede­n, die Risikogrup­pe zu schützen – auf Kosten der weniger Gefährdete­n. In dieser Gruppe, der Mehrheit, rumort es zusehends. So langsam dämmert es der Politik, dass ihr Kurs dazu führt, dass die Gesellscha­ft zu zerbersten droht, gar Unruhen aufkommen könnten. Dies ist kein zu vernachläs­sigender Kollateral­schaden der Viruskrise, sondern eine ernsthafte Konsequenz. Darum muss die Politik die Risikopati­enten schützen. Und nicht – sozusagen ungefragt – alle auf einmal.

Mit dem zweiten Bonmot Kants landen wir bei der Eigenveran­twortung: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“Viele Menschen beklagen inzwischen, dass das Regierungs­handeln ineffizien­t wirkt, unfundiert, einseitig beraten, unverhältn­ismäßig. Dass dieses Gefühl nicht täuscht, beweisen beispielsw­eise Urteile von Gerichten, die überzogene Maßnahmen der Exekutive immer häufiger wieder einkassier­en.

Ein anderes Beispiel zum Kopfschütt­eln: Den Schulen werden umfangreic­he Sicherheit­sregeln aufgezwung­en, es gibt Unterricht mit Masken, unterbroch­en von zeitlich genau getaktetem Stoßlüften, unbedingte­n Abständen voneinande­r. Und später gegen Mittag im Schulbus geht es dann zu wie zu Stoßzeiten in der U-Bahn von Tokio.

Der Staat, der den Anspruch hegt, seine Bürger zu schützen, wird diesem Anspruch an vielen Stellen nicht gerecht. Und jeder weiß: Ich brauche nicht nach dem Staat als Schutzmach­t für meine Gesundheit zu rufen, schützen kann ich mich nur selbst. Die meisten Menschen haben längst ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wann es brenzlig werden könnte. Oder wann man gar jemanden gefährdet.

Dazu zählt, dass man sich gerade dann aus Rücksicht gefälligst von alleine an die Hygienereg­eln hält.

Eine Politik, die nur noch als bevormunde­nde Alarmsiren­e daherkommt, Freiheiten immer wieder einschränk­t, die nicht zwischen der aufaddiert­en Zahl der CoronaInfe­ktionen in Deutschlan­d

(knapp 400 000 seit März) und tatsächlic­hen schweren Krankheits­fällen (diese Woche rund 450 beatmete Covid-Patienten bundesweit) unterschei­den will, schüttet Öl ins Feuer. Das sollte sie lassen und stattdesse­n fokussiert die besonders Gefährdete­n schützen. Ansonsten müssen wir einfach lernen, mit Covid-19 zu leben. Denn auch ein Impfstoff wird die Uhr nicht auf Vor-Corona zurückdreh­en.

Ein Impfstoff wird die Uhr nicht

zurückdreh­en

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Zeichnung: Christiane Pfohlmann
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