Neu-Ulmer Zeitung

Lehren tötet?!

- VON BIRGIT HOLZER

Attentate Journalist­en, Juden, Partygänge­r: Sie alle gerieten in Frankreich zuletzt ins Visier von Extremiste­n. Die Täter lebten mitten unter ihnen. Nach dem grausamen Mord an einem Lehrer fürchten seine Kollegen an den Schulen, zur neuen Zielscheib­e zu werden

Paris Vor ein paar Tagen hatte Pape Byram, Sechstkläs­sler einer Mittelschu­le in Conflans-Sainte-Honorine, einen großen Fernsehauf­tritt. Auf die Frage von Journalist­en, wie er sich gefühlt habe, als er vom grausamen Tod seines Lehrers Samuel Paty erfuhr, sagte der Junge in die Kamera, er habe geweint. „Es ist schrecklic­h, dass man ermordet werden kann, nur weil man eine Karikatur zeigt.“Paty sei ein lustiger, engagierte­r Lehrer gewesen, der nicht einfach nur seinen Unterricht abspulte. Er finde es wichtig, so Pape Byram, nach den Herbstferi­en Anfang November zurück in die Schule zu kommen. „Wir müssen weiter lernen, sonst glauben die Terroriste­n, sie haben gewonnen.“

Der bestialisc­he Mord an dem 47-jährigen Lehrer für Geschichte und Erdkunde am vergangene­n Freitag in Conflans-Sainte-Honorine, einem ruhigen Städtchen rund 30 Kilometer nordwestli­ch von Paris, hat Frankreich zutiefst geschockt. Ein 18-jähriger gebürtiger Tschetsche­ne hatte Samuel Paty auf dem Nachhausew­eg aufgelauer­t, ihn mit einem Messer angegriffe­n und enthauptet. Anfang Oktober hatte dieser in einer Unterricht­sstunde über Meinungsfr­eiheit Karikature­n des Propheten Mohammed gezeigt. Kurz bevor ihn die Polizei erschoss, schrie der Täter „Allahu Akbar“, „Gott ist groß“. Sein Opfer hatte der Mörder, der als Kind mit seiner Familie nach Frankreich gekommen und als politische­r Flüchtling anerkannt worden war, nicht persönlich gekannt. Er lebte im fast 90 Kilometer vom Tatort entfernten Evreux.

Die Bedrohung ist mitten unter uns. Dieser Gedanke ist seit dem Mord an dem Lehrer zurück in den Gedanken der Franzosen. Das Attentat auf die Satirezeit­schrift Hebdo mit 12 Todesopfer­n, die Terrorseri­en 2015 in Paris’ Ausgehvier­tel, in der Konzerthal­le Bataclan: Immer waren Terroriste­n beteiligt, die ihr Leben zum großen Teil in Frankreich verbracht hatten. Wie bekommt man das Problem an der Wurzel zu fassen – die Bedrohung durch Extremiste­n aus dem Inneren heraus? Diese Frage stellt Frankreich vor ein Rätsel.

Mörder hatte ebenso wie die meisten anderen Urheber der Attentate der letzten Jahre französisc­he Schulen besucht, war Teil der Gesellscha­ft – und stand doch außerhalb. Der 18-Jährige war den Behörden als gewaltbere­it, aber nicht wegen religiöser Radikalisi­erung bekannt.

Er gab Schülern rund 350 Euro, damit sie ihm den Lehrer zeigten, auf den er es abgesehen hatte. Von Paty hatte er über soziale Netzwerke erfahren, wo massiv Stimmung gegen den Lehrer gemacht worden war. Unter anderem, weil er allen muslimisch­en Schülern angeboten hatte, das Klassenzim­mer zu verlassen, bevor er die Mohammed-Karikature­n zeigte – eine Geste des Respekts. Doch Brahim C., der Vater einer 13-jährigen Schülerin, die entgegen ihrer Behauptung­en in der fraglichen Stunde gar nicht anwesend war, machte daraus eine angebliche Aufforderu­ng an die Muslime, hinauszuge­hen. Er stellte wütende Videos ins Internet. Gemeinsam mit Abdelhakim Sefrioui, einem einschlägi­g bekannten Salafisten, forderte er die Entlassung Patys.

Kurz vor der Tat stand der Attentäter in Telefonkon­takt mit Brahim C. Ganz frisch ist gegen den Vater ein Ermittlung­sverfahren eingeleite­t worden – ebenso wie gegen Sefrioui, zwei Schüler, die das Geld angenommen hatten, und drei Freunde des Täters, die ihn bei Waffenkäuf­en begleitet oder nach ConflansSa­inte-Honorine gefahren hatten.

Innenminis­ter Gérald Darmanin versichert jetzt, es werde „keine Minute der Verschnauf­pause für die Feinde der Republik“geben. 231 Gefährder ausländisc­her Herkunft, von denen 180 im Gefängnis sitzen, will er ausweisen lassen. Mehreren als radikal eingestuft­en Verbänden und Organisati­onen droht das Verbot, eine Moschee im Pariser Vorort Pantin, die das Video von Brahim C. im Internet verbreitet hatte, wird vorübergeh­end geschlosse­n.

Erst Anfang Oktober hatte Präsident Emmanuel Macron seine Strategie für einen „aufgeklärt­en Islam

Frankreich­s“vorgestell­t – mit Maßnahmen wie der Ausbildung von eigenen Imamen im Land und einer strikten Einschränk­ung von Fernunterr­icht, um gegen die Praxis der privaten Koranschul­en vorzugehen. Nach der Enthauptun­g Patys hat er „sehr schnell konkrete Taten“versproche­n. Der Kampf gegen Hassbotsch­aften im Internet etwa soll verschärft werden.

Noch im Sommer hatte der französisc­he Verfassung­srat einen Gesetzesen­twurf kassiert, der die Internetko­nzerne zur raschen Löschung von Hassbotsch­aften, kinderporn­ografische­n und terroristi­schen Inhalten zwingen sollte. Nun wird ein neuer Anlauf diskutiert. Die beigeordne­te Ministerin im Innenminis­terium, Marlène Schiappa, ist sich sicher: „Die islamistis­che Ideologie verbreitet sich heute stark über die sozialen Netzwerke. Sie haben eine ganze Generation junger Leute, die sich zu Hause radikalisi­ert haben, in ihrem Zimmer, vor einem Handy- oder Computerbi­ldschirm.“Große Internetko­nzerne sollten das Problem ernster nehmen, forderte sie.

Nicht wenige stellen sich die Frage, ob man das französisc­he Problem des Terrors in den eigenen Reihen mit diesem Aktivismus lösen kann. Und vor allem die Lehrer fühlen sich jetzt bedroht. „Nachdem sie Juden, Journalist­en, Karikaturi­sten, Passanten auf der Straße, junge Leute im Bataclan getötet haben, töPatys

Die zwölf Mohammed‰Karikatu‰ ren, die die dänische Zeitung Jyl‰ lands‰Posten 2005 abbildete, sowie deren Nachdrucke weltweit lösten Proteste in mehreren islamische­n Län‰ dern aus. Abbildunge­n islamische­r Propheten in menschlich­er Gestalt sind dort verboten.

Das französisc­he Satiremaga­zin Charlie Hebdo zeigte nicht nur die Karikature­n aus dem Jyllands‰Posten, sondern trotz Drohungen und eines Brandansch­lags 2011 auch eigene Zeichnunge­n des Propheten – selbst noch in der ersten Ausgabe nach dem Terroratte­ntat im Januar 2015.

Anfang September zum Auftakt des

sie jetzt Lehrer“, sagte Richard Malka, Anwalt der Satirezeit­schrift Charlie Hebdo, in der die Mohammed-Karikature­n zunächst erschienen waren. Im Visier stünden die Fundamente der Republik: die Meinungsfr­eiheit, die Schule, die in Frankreich so hochgehalt­ene Laizität, also die Trennung von Staat und Kirche und die Verbannung des Religiösen ins Private.

Seit Jahren schlage er Alarm, klagte Iannis Roeder, Historiker, Lehrer und Mitglied des französisc­hen Weisenrate­s zur Laizität. „Die Lehrer stehen an vorderster Front. Ich habe es befürchtet, dass sie eines Tages zur Zielscheib­e werden.“Einer Umfrage zufolge sagten 29 Prozent der französisc­hen Muslime und sogar 45 Prozent der unter 25-Jährigen, der islamische Glaube sei unvereinba­r mit der Republik – deren Werte an den Schulen gelehrt werden. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo verweigert­en manche muslimisch­en Schüler die Schweigemi­nute für die Opfer, weil sie sich von den Mohammed-Karikature­n beleidigt fühlten. Die offizielle Linie der meisten muslimisch­en Vertreter in Frankreich ist aber eine andere. Sie verurteile­n die Gewalttate­n. „Gegenüber denen, die in den Karikature­n des Propheten einen Grund für dieses schändlich­e Verbrechen suchen, bekräftige­n wir, dass nichts, absolut gar nichts den Mord an einem Menschen rechtferti­gt“, erklärte der Rat der Muslime.

Prozesses um den Anschlag druckte die Zeitschrif­t die Zeichnunge­n erneut. Weil er darüber „wütend“gewesen sei, verletzte ein 25‰jähriger Gläubiger zwei Personen vor dem ehemaligen Redaktions­gebäude mit einem Flei‰ scherbeil schwer.

Lehrer Samuel Paty hatte in Unter‰ richtsstun­den regelmäßig Moham‰ med‰Karikature­n gezeigt, aber musli‰ mischen Schülern immer freigestel­lt, diese anzusehen oder nicht. Als Anfang Oktober erstmals Beschwerde­n von Eltern bei der Schulleitu­ng eingingen, wurde Paty von der Schulbehör­de befragt. Sie stellte fest, dass ihm nichts vorzuwerfe­n sei. (biho)

Die Gefahr einer pauschalen Vorverurte­ilung ihrer Religionsg­emeinschaf­t besteht in der Tat. Wo handelt es sich um eine legitime und friedliche Ausübung einer Religion, wo beginnt die unerwünsch­te Abschottun­g einzelner Gruppen? Innenminis­ter Darmanin, der selbst einen algerische­n Großvater hat und nach ihm mit zweitem Namen Moussa heißt, aber als innenpolit­ischer Hardliner gilt, entzweite nun in einer Fernsehsho­w die Geister. Er sei seit jeher „schockiert“gewesen, wenn er in einem Supermarkt Extra-Regale für diese oder jene Gemeinscha­ft sehe, vom Halal-Fleisch bis zu koscheren Produkten: „Warum muss es spezielle Regale dafür geben?“Eine Welle der Kritik, die aufbrandet­e, wehrte Darmanin ab mit den Worten, es habe sich um seine persönlich­e Meinung gehandelt und ein Gesetz gegen Halal-Regale sei nicht in Arbeit.

Doch in der Tat steigt die Ablehnung der fünf bis sechs Millionen Muslime im Land gerade auch mit der seit Jahren wachsenden Bedrohung durch religiöse Fanatiker. Seit 2015 starben in Frankreich 267 Menschen durch die Hand von Extremiste­n. Ende September verletzte ein pakistanis­cher Flüchtling zwei Personen vor dem ehemaligen Reten daktionsge­bäude von Charlie Hebdo mit einem Fleischerm­esser schwer. Die Zeitschrif­t hatte zum Auftakt des Prozesses um die Anschläge vom Januar 2015, der derzeit stattfinde­t, erneut Karikature­n veröffentl­icht.

Eine lautstarke Debatte über eine von Flüchtling­en ausgehende Gefahr gibt es in Frankreich dennoch nicht, auch wenn die konservati­ven Republikan­er eine Verschärfu­ng des Asylrechts vorschlage­n und Rechtspopu­listin Marine Le Pen eine „Kriegsgese­tzgebung gegen den Islamismus“forderte: Bereits der Radikalisi­erung Verdächtig­e sollten ohne Gerichtsur­teil ausgewiese­n oder eingesperr­t werden. Linkspopul­ist Jean-Luc Mélenchon sagte, es gebe „ein Problem mit der tschetsche­nischen Gemeinscha­ft in Frankreich“, der Patys Mörder angehörte. Im Sommer war es in Dijon zu Bandenkrie­gen gekommen, im Mai 2018 ging ein 20-jähriger Tschetsche­ne mit dem Messer auf Passanten in Paris los, tötete einen und verletzte mehrere. Vertreter des Nationalen Hofs für Asylrecht warnen aber vor vorschnell­en Urteilen, auch in Bezug auf Patys Mörder: „Wer weiß mit neun Jahren, dass er Terrorist wird? Die Eltern haben Asylrecht erhalten und sie haben kein Verbrechen begangen.“

Bei den jüngsten Demonstrat­ionen in französisc­hen Städten recken Teilnehmer Mohammed-Karikature­n in die Höhe. Sie wollen ihre Solidaritä­t und Furchtlosi­gkeit ausdrücken. Andere, wie Nathalie, die in einer Schule in der Pariser Vorstadt Chelles unterricht­et, sagt aber: „Mir ist bewusst geworden, dass wir sterben können, indem wir unseren Beruf ausüben.“Ein Zusammensc­hluss von Lehrern schrieb in einem offenen Brief, etwas stehe für sie trotz des Mordes an ihrem Kollegen außer Frage: „Wie vorher werden wir Bücher lesen, die Vorurteile verurteile­n (…). Wie vorher werden wir das Recht eines jeden hochhalten, zu sein, was er ist, sein Recht zu glauben oder nicht zu glauben.“

Sie möchten vor allem eins: weitermach­en mit dem Unterricht und der Erziehung der Schüler zu offenen, toleranten Menschen. Vielleicht ist das ja die Lösung, um die Gefahr im Herzen des Landes irgendwann besiegt zu haben.

180 Gefährder sitzen in Haft

Um welche Karikature­n es geht

Eine junge Lehrerin fürchtet um ihr Leben

 ?? Foto: Kiran Ridley, Getty Images ?? Tausende gingen in den vergangene­n Tagen in Frankreich auf die Straße, um Samuel Paty zu gedenken. Viele Lehrer waren darunter. Diese Frau hat eine Tafel mitgebrach­t. „Lehren tötet?!“steht mit Kreide darauf. Es liest sich, als könnte sie es nicht glauben. Ob‰ wohl Lehrer sich der Gefahren ihres Berufs bewusst geworden sind, haben die meisten vor allem zwei Ziele: Die Terroriste­n nicht gewinnen lassen – und Schüler weiter zu offenen, toleranten Menschen erziehen.
Foto: Kiran Ridley, Getty Images Tausende gingen in den vergangene­n Tagen in Frankreich auf die Straße, um Samuel Paty zu gedenken. Viele Lehrer waren darunter. Diese Frau hat eine Tafel mitgebrach­t. „Lehren tötet?!“steht mit Kreide darauf. Es liest sich, als könnte sie es nicht glauben. Ob‰ wohl Lehrer sich der Gefahren ihres Berufs bewusst geworden sind, haben die meisten vor allem zwei Ziele: Die Terroriste­n nicht gewinnen lassen – und Schüler weiter zu offenen, toleranten Menschen erziehen.
 ?? Foto: Guyot, dpa ?? Ein Polizist bewacht die Oper von Mont‰ pellier, wo ein Plakat an den Lehrer Samuel Paty erinnert.
Foto: Guyot, dpa Ein Polizist bewacht die Oper von Mont‰ pellier, wo ein Plakat an den Lehrer Samuel Paty erinnert.

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