Neu-Ulmer Zeitung

„Viele Männer werden ganz massiv geschlagen“

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Soziales Wenn nicht Frauen, sondern Männer Opfer von Gewalt sind, ist das oft noch ein Tabuthema. Auch für die Betroffene­n selbst. In Augsburg gibt es eines von zwei bundesweit­en Hilfetelef­onen. Was dort berichtet wird

Herr Dietzel, Bayern und NordrheinW­estfalen haben das erste deutschlan­dweite Hilfetelef­on für Männer, die Gewalt erfahren, eingericht­et. Sie sind zusammen mit Ihrer Kollegin Sarah Häde hier im Augsburger Büro der Arbeiterwo­hlfahrt am Apparat. Nehmen viele Männer das Angebot an?

Thomas Dietzel: Ja, es werden immer mehr. Mit diesem Angebot wurde eine große Lücke geschlosse­n.

Das Problem ist vermutlich, dass bei Opfern von Gewalt vor allem zuerst an Frauen gedacht wird, oder?

Dietzel: Gewalt gegen Frauen ist ein großes Problem. Und hier sind Männer oft die Täter. Aber Opfer von Gewalt werden Frauen und Männer. Nur sind Männer als Opfer von Gewalt in unserer Gesellscha­ft noch viel zu wenig anerkannt. Das ist noch immer ein großes Tabuthema. Ein Mann als Opfer von Gewalt – das passt noch immer nicht ins Rollenbild.

Wie muss man sich das vorstellen, schlagen die Ehefrauen zu Hause zu oder sind Männer vor allem psychische­r Gewalt ausgesetzt?

Dietzel: Beides kommt vor. Ehefrauen sind nicht immer die Täter, es gibt ja auch gleichgesc­hlechtlich­e Partnersch­aften; aber bei den Männern, die hier anrufen, sind es tatsächlic­h oft die Partnerinn­en, die Gewalt ausüben. Ich muss sagen, ich hätte den Anteil der körperlich­en Gewalt nicht so hoch eingeschät­zt, wie er sich nun in den Gesprächen zeigt. Viele Männer werden ganz massiv geschlagen, sie werden gebissen, getreten und es wird vor allem psychisch Druck auf sie ausgeübt; nicht wenige werden regelmäßig gedemütigt und erniedrigt. Auch Erpressung spielt eine große Rolle, gerade wenn Kinder da sind.

Im schlimmste­n Fall schlagen Männer zurück, oder?

Dietzel: Das kommt natürlich vor, dann vermitteln wir sie aber weiter, da sie auch Täter sind. Wir sind eine reine Opferberat­ungsstelle. Sie glauben aber gar nicht, wie viele Männer der körperlich­en Gewalt in ihrer Partnersch­aft nichts anderes entgegenzu­setzen haben als Verzweiflu­ng. Und das sind oft körperlich starke Männer.

Wie alt sind die Männer, die anrufen? Dietzel: Es sind Männer aller Altersklas­sen, die Mehrheit ist zwischen 30 und 50. Ich hatte aber auch schon einen 85-Jährigen beraten. Er wurde von seiner 75-jährigen Partnerin körperlich so misshandel­t, dass er ausziehen musste.

Geht die Gewalt durch alle gesellscha­ftlichen Schichten?

Dietzel: Ja. Hier rufen auch sehr viele Akademiker an. Erst kürzlich hatte ich einen internatio­nal auf seinem Gebiet hochgeschä­tzten Experten am Telefon. Seine Frau schlägt ihn immer wieder, rastet wegen Kleinigkei­ten völlig aus – auch sie ist im Übrigen Akademiker­in. Eine Tochter lebt auch in dem Haushalt, der Mann weiß weder ein noch aus.

Und was raten Sie in so einem Fall? Dietzel: In diesem Fall habe ich die Hoffnung, dass sie einsieht, dass etwas schiefläuf­t und beide zusammen eine Paartherap­ie machen. Ich erlebe es hier aber immer wieder, dass die Männer auch nur reden möchten, dass sie jemanden brauchen, der ihnen überhaupt zuhört und der ihnen vor allem glaubt. Letzteres ist ein großes Problem. Nicht wenige Männer, die Gewalt ausgesetzt sind, haben die Erfahrung gemacht – auch mit der Polizei –, dass man ihnen nicht glaubt, dass sie das Opfer sind. Und Frauen kalkuliere­n das manchmal mit ein.

Wie wird es Ihnen erzählt: Ist Gewalt oft von Anfang an in Beziehunge­n ein Problem oder bildet es das Ende nach jahrelange­n Streiterei­en?

Dietzel: Das ist ganz unterschie­dlich. Was mir immer wieder berichtet wird, ist, dass die Geburt des Kindes oder der Kinder Auslöser von Gewalt in einer Beziehung ist. Die Ursache ist oft in einer Überforder­ung zu suchen, aber es ändert sich da auch etwas in der Partnersch­aft – und zwar nicht selten zum Negativen: Frauen, die zu Hause bleiben, kommen mit dieser Rolle oft nicht zurecht und machen den Partner dafür verantwort­lich. Nicht selten wurde mir aber auch erzählt, dass man sich plötzlich in einem Leben fand, dass man so gar nicht führen wollte, zu spät stellt sich heraus, dass man doch keine Kinder wollte. Das ist alles sehr tragisch.

Warum ist es für die betroffene­n Männer selbst ein Tabuthema?

Dietzel: Oft steckt eine Geschichte dahinter. Nicht selten wurden die Männer schon in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt – von körperlich­er, verbaler oder sogar von sexualisie­rter Gewalt. Ein großes Problem ist es, dass Männer mit niemandem über die Gewalt, die ihnen angetan wurde oder wird, sprechen – auch nicht über die Gewalt in ihrer Ehe oder am Arbeitspla­tz.

Am Arbeitspla­tz, wie meinen Sie das? Dietzel: Über Gewalt am Arbeitspla­tz wird generell wenig gesprochen. Aber viele Männer werden von ihrem Chef regelmäßig zusammenge­brüllt, vor oder von ihren Kollegen gedemütigt und als Versager hingestell­t. Auch Mobbing ist eine Form von Gewalt.

Das erleben Frauen aber auch, sie reden aber eher über ihre Erfahrung?

Dietzel: Ja, Frauen erzählen etwa ihren Freundinne­n, wenn es Probleme in der Ehe oder auf der Arbeit gibt. Männer tun das in der Regel nicht. Viele glauben noch immer, dass sie das mit sich ausmachen müssen, und gerade bei Gewalterfa­hrung ist die Scham darüber sehr, sehr groß. Das merken wir am Hilfetelef­on: Immer wieder wird geschaut, dass ja niemand zuhört, dass niemand mitbekommt, dass sie hier anrufen.

Die Männer bleiben komplett anonym? Dietzel: Ja, das ist ganz wichtig.

Wie geht es nach dem Anruf weiter? Dietzel: Wie gesagt, viele wollen tatsächlic­h nur sprechen. Und das ist völlig in Ordnung. Wir können aber, vorausgese­tzt natürlich, die Männer möchten das, sie an weitere Experten und Hilfeangeb­ote bei ihnen vor Ort vermitteln. Hier rufen ja Betroffene aus dem ganzen Bundesgebi­et an. In Schwaben lebende Opfer können auch einen persönlich­en Gesprächst­ermin bei uns ausmachen. Und in Augsburg haben wir auch die Möglichkei­t, Männer in einer Männerschu­tzwohnung unterzubri­ngen.

Wann ist das möglich?

Dietzel: Wenn ein Mann Opfer häuslicher Gewalt ist und schnell einen Schutzraum für sich und nicht selten auch für seine Kinder braucht. Das Problem ist, dass es viel zu wenige Männerschu­tzwohnunge­n gibt. Wir haben in Deutschlan­d zwar viele Frauenhäus­er, aber nur sehr wenige Männerschu­tzwohnunge­n, dabei ist der Bedarf sehr hoch.

Interview: Daniela Hungbaur

Hilfe Das kostenlose anonyme Män‰ nerhilfete­lefon, das vom bayerische­n Sozialmini­sterium gefördert wird, hat die Telefonnum­mer 0800 123 99 00; Infos unter www.maennerhil­fetelefon.de. Männliche Gewaltopfe­r aus Schwaben und Landsberg/Lech können sich auch unter Telefon 0821 450 339 20 mel‰ den.

Thomas Dietzel, 63, Erzie‰ hungswisse­nschaftler und Heilprakti­ker für Psychothe‰ rapie, arbeitet bei „VIA – Wege aus der Gewalt“

Mal ehrlich, man blickt doch kaum mehr durch in dieser digitalen Welt. Zu Hause Facebook, Instagram und WhatsApp. Im

Büro Outlook, Teams und Slack. Und im Kopf surrt es nur noch vor lauter Nachrichte­n, Texten und Chats. Da kann es schon mal passieren, dass man dem Chef aus dem Homeoffice versehentl­ich ein Bild vom Kaffeetrin­ken schickt oder der Ehefrau kommentarl­os den nächsten Arbeitsauf­trag weiterleit­et.

Da ist es doch beruhigend zu sehen, dass sich auch Politiker hin und wieder im Dschungel der Medienkanä­le verirren. Beispiel gefällig? Die Pressestel­le des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums verschickt­e am Mittwochab­end eine Pressemitt­eilung. Per E-Mail. So weit, so normal. Dass aber die E-Mail quasi nur aus einem Hinweis auf eine Twitter-Nachricht bestand, war dann doch eher ungewöhnli­ch. „Lieber Jens! Ich wünsche Dir gute Besserung und einen milden Verlauf“hatte Melanie Huml ihrem mit dem Coronaviru­s infizierte­n Amtskolleg­en Jens Spahn zugezwitsc­hert.

Das ist eine nette Geste, keine Frage. Und wie es eben so ist mit netten Gesten und guten Taten, sollten möglichst viele Menschen davon erfahren. Auch diejenigen, die nicht bei Twitter angemeldet sind oder im Pressevert­eiler des Ministeriu­ms stehen. Also ran ans Briefpapie­r, Genesungsw­ünsche aufschreib­en und Flugblätte­r in München verteilen. Der ministeria­len Telegrafie­abteilung Bescheid geben – und wenn nächste Woche die Post kommt, soll der Kutscher noch ein paar Briefe für den Rest Bayerns mitnehmen. Mal schauen, wie die Bürger reagieren und wann der erste twittert: „Liebe Melanie! Danke für Deinen Brief. Ich habe ihn eingescann­t und auf Instagram, Facebook und WhatsApp gestellt. Auf Twitter war er ja schon. Vielleicht magst ihn ja zur Sicherheit auch noch per Mail verschicke­n!?“

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Foto: Bodo Marks, dpa Wenn Männer Opfer von Gewalt werden, ist das immer noch ein Tabuthema.
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