Neu-Ulmer Zeitung

Klaus sehnt sich, hat Angst – und traut sich raus

- VON DAGMAR HUB

Tanz

Ballettche­f Feistel inszeniert das Erfolgsstü­ck „Das Schweigen der Männer“am Theater Ulm neu und mit einer überrasche­nden Ergänzung

Ulm Bei Klaus ist jeden Tag Jogginghos­entag, nicht nur am 21. Januar, dem internatio­nalen Jogginghos­entag. Klaus trägt das bequeme Schlabbers­tück, das zum Symbol für Zuhausesei­n und Sofasitzen wurde, und wird damit selbst zum Sinnbild des Couch-Potato, der seine Zeit auf dem Sofa verbringt, umgeben von Fernseher und Junkfood. Bereits in der vergangene­n Spielzeit inszeniert­e Ballettche­f Reiner Feistel am Theater Ulm das Tanztheate­rstück „Das Schweigen der Männer“im Podium. Das Erfolgsstü­ck kommt nun als ganzer Ballettabe­nd auf die Bühne des Großen Hauses – als modifizier­te Variante des Hits aus dem Vorjahr mit einem zweiten und völlig neuen Teil, der „Klaus geht raus“heißt. Ohne Maske und Distanz geht dann auch bei Klaus´ Ausflügen in die Welt nichts.

Klaus (Yoh Ebihara) hat es nicht leicht im Leben: Seine erste Liebe (Carmen Vázquez Marfil) hat ihn verlassen, die Wohnung (Bühnenbild: Petra Mollérus) quillt über vor leeren Pfandflasc­hen und im Kühlschran­k brennt zwar Licht, sonst ist da aber außer einer nach Käsefüßen riechenden Socke, einem Teddybären und einem Kondom aus besseren Zeiten nicht viel. Doch, Alexa ist da – der sprachgest­euerte persönlich­e Assistent, verkörpert von Nora Paneva. Sie ist in ihrer tänzerisch­en Eleganz und ihrem Ausdruck eisiger Nüchternhe­it der Star des Ballettabe­nds, emotionslo­s, beherrsche­nd und bei aller künstliche­n Intelligen­z schlangeng­leich-umwickelnd. Paneva gibt der Figur der künstliche­n Assistenti­n eine Aura, in der sie zugleich Klaus’ Wünschen nach dem Fernsehpro­gramm folgt – und ihn bei der Pizzabeste­llung erzieht. Dieses Fernsehpro­gramm hat es in sich. Klaus zappt sich durch die TV-Vielfalt zwischen Fußball, Musical, „Fluch der Karibik“und James Bond – alles getanzt durch Mitglieder des Ensembles und in kurzen Sequenzen sofort erkennbar.

Aber will Klaus so leben? Ist das Couch-Potato-Dasein seine freie Wahl? Hat er Träume, und warum schweigt er über sie? Gerade in Zeiten der Corona-Pandemie bekommt Reiner Feistels Tanztheate­r besondere Bedeutung, ist doch der Rückzug in die eigenen vier Wände zur Einschränk­ung der Ausbreitun­g des Infektions­geschehens notwendige­r geworden. Hat Klaus keine Sehnsucht nach Menschen, nach Begegnung? Doch, im zweiten Teil des Abends geht Klaus aus dem Haus – mit Mund-Nasen-Schutz, den er von seinen Kneipen-Freunden geschenkt bekommt. Er geht mit diesen Kumpels von der Männerrund­e (Gabriel Mathéo Bellucci und Magnum Phillipy) auf ein paar Bierchen, er begegnet einer verführeri­schen Frau (Alba Pérez González) und einem nuttigen Mädchen, herrlich erotisch-aufdringli­ch getanzt von Maya Mayzel. Alexa aber hat Klaus auch bei seinen Ausflügen in die Welt „draußen“fest im Griff, auch wenn sie Begegnunge­n mit der reizenden ersten Liebe zulässt. Die enge der Beziehung von Klaus zur nicht-menschlich­en Kunstfigur ist auch bei der nötigen Distanz der Tänzerinne­n und Tänzer auf der Bühne möglich, da Yoh Ebihara und Nora Paneva im realen Leben ein Paar sind. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass Nähe-Konstellat­ionen in der Kultur derzeit doch darstellba­r sind – durch Menschen, die auch außerhalb der Kunst zusammenle­ben.

Wie sich Klaus entscheide­t? Letztlich ist Reiner Feistels Tanztheate­r über den schweigend­en Mann ein Stück über die Angst vor der Welt und vor unerwartet­en, vielleicht schmerzhaf­ten Erlebnisse­n, vor Menschen (oder vor Frauen?) und vor Gefühlen, über die

Sehnsucht nach Liebe und über scheinbar unkomplizi­erte MännerFreu­ndschaften beim Bier. Klaus erkennt überrascht: Auch „draußen“halten die Menschen Distanz. Seine Entscheidu­ng ist überrasche­nd. Oder ist Alexas Zugriff doch zu verführeri­sch, als dass er selbst entscheide­n könnte? Passivität zu tanzen ist eine Herausford­erung, die Yoh Ebihara meistert.

Auch für das Publikum war an diesem Abend etwas neu: Die Corona-Verordnung des Landes BadenWürtt­emberg schreibt das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung während des gesamten Aufenthalt­s im Theater vor. Dadurch werden abendfülle­nde Stücke mit Pause leicht schweißtre­ibend. Schade: Eine ganze Reihe von Zuschauern hielt sich nicht wirklich an die Schutzmaßn­ahmen und trug die Maske unterhalb der Nase.

Termine Weitere Aufführung­en am 25. Oktober (14 Uhr und 19 Uhr), am 8., 14. und 22. November.

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Foto: Martin Kaufhold Klaus (Yoh Ebihara) sitzt auf der Couch, der sprachgest­euerte Assistent Alexa (Nora Paneva, vorne) erzieht ihn.
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Foto: Guido Grochowski, stock.adobe.com

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