Neu-Ulmer Zeitung

„Man sollte uns dünne Mädchen nicht verurteile­n“

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Interview Marisa dos Santos aus Neu-Ulm hat ihren Traum verwirklic­ht und arbeitet seit Februar als gefragtes Model in

New York. Doch Corona trübt den Start in der Metropole: Über ungewohnte Castings und ungefragte Meinungen

Neu‰Ulm/New York Die Morgensonn­e strahlt ihr ins Gesicht: Marisa dos Santos sitzt in ihrer Wohnung in New Jersey. Dort lebt sie seit ein paar Monaten, gebürtig kommt die 26-Jährige aus Neu-Ulm. Mit sechs Jahren hat sie das erste Mal für einen Katalog gemodelt, ihr erstes Shooting war auf einem Spielplatz in München. Mit 14 Jahren wurde dos Santos mit ihrer Mutter beim Schlendern in der Ulmer Fußgängerz­one von Senay Blank, einer Modelagent­in aus der Region, angesproch­en. Mittlerwei­le ist dos Santos in Europa erfolgreic­h und hat unter anderem für die Marken Rituals, Artdeco oder Desigual gemodelt. Vor Kurzem folgte der Höhepunkt ihrer Karriere: Sie ist in der Modemetrop­ole New York gelandet. Wir haben das Model zum Videogespr­äch getroffen.

Wie kam es, dass Sie nach New York gezogen sind?

Marisa dos Santos: Es war mein Traum, seitdem ich zwölf Jahre alt bin. Mittlerwei­le bin ich seit zehn Jahren im Modelbusin­ess. Ich habe viel in Europa gearbeitet, irgendwann ist mir der Markt zu langweilig geworden. 2018 bin ich für zwei Wochen alleine nach New York, um zu sehen, ob ich mir vorstellen kann, dort zu leben. Vor Ort habe ich mich bei Agenturen vorgestell­t. Es hat geklappt: Ich wurde von meiner Traumagent­ur angenommen.

Und wie ging es weiter? dos Santos: Im Februar 2020 bin ich umgezogen. Das war der denkbar schlechtes­te Zeitpunkt

Mein Papa hat mir noch zwei Masken mitgegeben und meinte „Trag die beim Flug, da geht ein Virus um“. Ich dachte mir, wird wohl nicht so schlimm sein – und neun Monate später sitz’ ich hier in Quarantäne und hab zum zweiten Mal Corona. Als ich angekommen bin, war das Leben noch normal und keinen Monat später kam der Lockdown.

Ihre Eltern wohnen in Neu-Ulm, Sie sind dort aufgewachs­en. Gibt es eine Gemeinsamk­eit zwischen Neu-Ulm und New York? dos Santos (lacht): Ein kurzes und klares Nein. Meine Mama hat immer gesagt: „Du kommst eh nicht mehr zurück.“

Was ist für Sie dann der größte Unterschie­d der beiden Städte? dos Santos: Den merke ich vor allem im Alltag: Es kümmert hier keinen, was du machst, wie du aussiehst, wer du bist. Ich fühle mich frei. Und ich bin relativ anonym, das genieße ich sehr.

Wie äußert sich das? dos Santos: Wenn ich in Ulm beispielsw­eise meine glänzende, enge Lederhose mit einem knallroten Top auf der Straße tragen würde, würde jeder sagen: „Um Gottes Willen, wo will die denn tagsüber hin?“Das kümmert in New York keinen. Im Gegenteil: Da wirst du eher von einem Streetstyl­e-Fotograf geknipst.

Ist Ihnen wichtig, was andere von Ihnen denken? dos Santos: Diese Angewohnhe­it habe ich abgelegt. Vielleicht kommt das auch mit dem Alter. Mit 15 oder 16 Jahren habe ich noch mehr Wert auf die Meinung anderer gelegt als auf meine eigene.

Anhand des Aussehens bewertet zu werden gehört doch aber zu Ihrem Job? Gibt es einen Wandel in der Modebranch­e? dos Santos:

Es ändert sich auf jeden

Fall etwas. Das sieht man an den großen Kampagnen von Calvin Klein beispielsw­eise. Auf den Plakaten sind ständig unterschie­dliche Körpertype­n oder Hautfarben zu sehen und nicht mehr nur die klassische­n Schönheite­n. Das braucht der Markt auch. Letztendli­ch ist die Mode für den Kunden, und der sieht nicht immer gleich aus. Schönheit hat nichts mit Körperform zu tun.

Sind die klassische­n Maße 90-60-90 nicht mehr wichtig? dos Santos: Es kommt auf den Markt an: In Paris oder Mailand ist man noch sehr auf das Klassische festgefahr­en. Aber in London oder New York brauchst du keine 90-60-90. Die Persönlich­keit zählt.

Wie finden Sie dieses Umdenken? dos Santos: Es ist gut, dass es passiert, aber Bodyshamin­g (das Beurteilen von Menschen aufgrund ihres Aussehens) sollte nicht in die andere Richtung gehen. Also uns dünne Mädchen, die nichts dafür können, zu beurteilen. Das habe ich schon in Ulm erlebt. Ich stand in einem Café, da kam ein älterer Mann zu mir her und sagte: „Sie sollten aufpassen, dass sie keine Essstörung bekommen. Sie sind sehr dünn.“Hey, lass das mal meine Sache sein!

Wie wird bei einem Casting, das in der Regel ja nur ein paar Minuten dauert, auf die Persönlich­keit geachtet? dos Santos: Beim Small Talk und auch, wie du dich präsentier­st. Ich hatte mal ein Casting in Mailand, da habe ich ein weißes T-Shirt getragen und dummerweis­e vorher meinen Kaffee darüber geleert. Ich hatte keine Zeit mehr, das Shirt zu wechseln. Dann bin ich eben so ins Casting. Die haben ein Video von mir aufgenomme­n und mein erster Satz war übersetzt ungefähr: Hallo, ich bin Marisa und wirklich nicht fähig, Kaffee zu trinken und gleichzeit­ig ein weißes Shirt zu tragen. Ich bekam den Job. Der Castinglei­ter meinte: Der Kaffee hat’s gemacht.

Apropos Casting: Wie waren eigentlich Ihre ersten Jobs in New York? dos Santos: Ich wurde ab der zweiten Woche sehr gut gebucht, da ist mir ein unglaublic­her Stein vom Herzen gefallen. Denn im Endeffekt hast du all deine Ersparniss­e genommen, bist nach New York gegangen und und hast die Hoffnung, dort zu arbeiten – aber du hast keine Garantie. Ich habe auch kein geregeltes Monatseink­ommen als Model. Der Kunde hat im Durchschni­tt drei Monate Zeit, um zu zahlen. Das wissen viele nicht.

Können Sie wegen Corona gerade überhaupt arbeiten? dos Santos: Ab Ende Februar ging es bergab. Der erste Job nach dem Lockdown war im Juni für eine Jeansmarke. Gerade habe ich vereinzelt Aufträge, aber leider absolut keine Jobgaranti­e.

Blenden wir Corona mal aus: Wie läuft so ein Casting normalerwe­ise ab? dos Santos: An einem normalen Tag, der nicht in der Saison liegt, sind es drei bis vier Castings am Tag. Ich bin immer überpünktl­ich, also sehr deutsch, was das angeht

Dann stelle ich mich an. Wenn der Kunde mich mag, werden noch Fotos oder ein Video gemacht und wenn er mich richtig mag, darf ich etwas anprobiere­n. Dann gehe ich nach Hause und warte. Wenn ich den Job nicht bekommen habe, krieg’ ich auch keine Rückmeldun­g.

Aktuell ist in Ihrer Wahlheimat viel los: Die Bürgerrech­tsbewegung Black Lives Matter, die Corona-Pandemie, die Präsidents­chaftswahl­en. Wie erleben Sie die Zeit? dos Santos: Ich habe mich noch nie so viel über Politik unterhalte­n wie gerade. Das ist irre. Nach der Wahl von Joe Biden waren hier Partys auf den Straßen – wodurch die Corona Fälle wieder gestiegen sind. Wir haben heute (Montag) eine Million Neuinfekti­onen. Und auch Black Lives Matter war heftig. Solche Aufstände habe ich noch nie erlebt. Ich bin durch Downtown gelaufen, habe die Barrikaden gesehen, die eingeschla­genen Scheiben. Dann rief ich meine Mama an und sagte: „Ich weine gleich. Was ist das hier?“. Die Stadt, die niemals schläft, hat geschlafen.

Interview: Sophia Huber

 ?? Foto: Jorge Aguilera ?? Ende August im New Yorker Stadtteil Manhattan: Für Marisa dos Santos aus Neu‰Ulm war es der große Traum, in die Metropole zu ziehen – doch die Corona‰Pandemie hat ihr den Start nicht leicht gemacht.
Foto: Jorge Aguilera Ende August im New Yorker Stadtteil Manhattan: Für Marisa dos Santos aus Neu‰Ulm war es der große Traum, in die Metropole zu ziehen – doch die Corona‰Pandemie hat ihr den Start nicht leicht gemacht.

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