Warum nicht mal ein Hemd „entknöpfeln“?
Stilkritik Worin besteht das Geheimnis großer Literatur? Michael Maar hat darauf Antworten gefunden.
Und plädiert zugleich für die Lektüre von Autoren, die man bisher links liegen gelassen hat
Tiefebenen, durch barocke Überfülle wie mönchische Dürftigkeit navigierende Lese- und Stilverführung. Wer wird unterschätzt? Hier macht der Kritiker eine respektable Liste auf. Marlen Haushofer zählt eher nicht dazu – von ihr übrigens stammt das postalische Eingangszitat (aus „Wir töten Stella“). Eher schon hoch gebildete Briefschreiberinnen wie die Varnhagen und Bettine von Arnim, Schwester von Clemens Brentano (Bettine hatte es sich mit dem verehrten Goethe verscherzt, als sie dessen Frau Christiane als „toll gewordene Blutwurst“beschimpfte.) Man könnte fortfahren mit Marie von Ebner-Eschenbach, Regina Ullmann, Alexander Lernet-Holenia, Leo Perutz …
Michael Maar schaltet ein Kurzkapitel über die Lyrik ein und führt uns dann – offenen Auges – in die literarischen Feuchtgebiete der Erotik. Hier allerdings ist angesichts der (angestrengten) Aussparungen, Umschreibungen, Unschärfen, der fremdgängerischen Fantasien und ungenierten Zugriffe mehr denn je Stil gefragt. Schön, wie Doderers Held in der „Strudlhofstiege“Edithas „weißes Sporthemd entknöpfelte“, noch schöner der Sex auf dem Friedhof in Ulrich Bechers Roman „Murmeljagd“– den „niemand, der ihn gelesen hat, je wieder vergißt“.
Michael Maar schärft in beispielhafter Fülle den Blick für Stil und Stilblüten, für große und weniger große Literatur, wohl wissend, dass diese ihr Geheimnis für sich behält.
Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur.
Rowohlt, 655 S. (mit Anmerkungen, QuizAuflösung, Litera turverzeichnis und Register), 34 ¤.