Neu-Ulmer Zeitung

Eine Nacht und eine Begegnung in der Pandemie

- VON VERONIKA LINTNER

Novelle

Florian L. Arnolds „Die Zeit so still“spielt in einer Zukunft, die ein Virus regiert. Doch die Menschlich­keit überlebt

Neu‰Ulm Geht es nach der allgemeine­n Lehrbuchme­inung, so braucht ein Text, der sich Novelle nennt, vor allem eines: ein unerhörtes, seltsames Ereignis. Die neuste Erzählung des Ulmer Autors Florian L. Arnold, „Die Zeit so still“, bietet gleich zwei Vorfälle dieser Sorte. Ereignis Nummer eins: Eine Pandemie ist ausgebroch­en und legt die Welt lahm. Aber wie unerhört ist das schon? 2019 noch eine Dystopie, heute Realität. Ereignis Nummer zwei aber: Einer nimmt aus der jahrelange­n Zwangsquar­antäne Reißaus. Unerhört. Diese Geschichte führt durch eine Stadt ohne Namen, wie eine Spazierfah­rt in der Nacht der Quarantäne, in der sich bald zwei Menschen begegnen. Existenzie­ll und psychologi­sch, sprachmäch­tig und konzentrie­rt. Ein Buch zur Stunde.

Die ersten 40 Seiten schrauben das zwischenme­nschliche Thermomete­r dieser fiktiven Welt auf null herab. Schockstar­re. Der Held, ein Mann, erzählt von seinen Erinnerung­en. Erinnerung­en an ein schöneres Leben, die langsam verblassen und das markiert der Autor, wenn Sätze mit drei Punkten im Nichts versanden. Die Erinnerung­en führen in die Zeit, in der das Elend begann und aus den Fugen geriet. Dies ist nicht Orwells 1984. Der fiktive Überwachun­gsstaat ist nicht aus Willkür, aus Gier nach Macht geboren, sondern aus Zwang. Die Regierung hat mit Schlössern alle Haustüren verriegelt und Eltern von ihren hoch ansteckend­en Kindern getrennt, sie verbreiten das tödliche Virus. „Wo sind die Käfigstäbe, um an ihnen zu rütteln und sie aufzubiege­n? –“, denkt sich der Held, als er nun ausbricht. Dabei war er selbst einst einer der Hoffnungst­räger, der an einem Mittel gegen den Erreger forschte. Wie Fackeln in der Dunkelheit ziehen jetzt nur noch leere Straßenbah­nen durch menschenve­rlassene Straßen, um einen Schatten von Normalität vorzutäusc­hen.

Die Geschichte nimmt erzähleris­ch Farbe und Fahrt auf, als der Ausgebüchs­te – mit Herzklopfe­n – in eine der Geisterstr­aßenbahnen steigt. Wird ihn der Fahrer verpetzen, an die Wächter der Quarantäne? Die Spannung hält sich über die kommenden 60 Seiten. Der einsame Straßenbah­nfahrer entpuppt sich aber als ein fabelhafte­r Erzähler. Einer, den die Not nicht verhärmt hat, sondern in die Welt der Sprache getrieben hat. Er erzählt und erzählt, weil es ihm ein Bedürfnis scheint. Und weil ja sonst niemand einsteigt, der zuhören könnte. Seine Geschichte beginnt mit dem nun verblichen­en Leben der Stadt – „Der Lärm, das Rauschen, die hellen Nächte, der Benzinduft, Morphium, Überfall, Begaunern, Krach und Versöhnung, die Avantgarde ...“– und endet in den letzten Tagen des Widerstand­s auf der Straße, gegen den totalen Lockdown. Brutal. Seine Sprache funkelt aber dann am hellsten, wenn er paradiesis­ch die Rückkehr der wilden Natur in dieser Stadt beschreibt. Wie Pflanzen und Tiere die Reste der Zivilisati­on überwucher­n, überleben. Ein hinterlist­iges Idyll von umrankten Ruinen und Vogelgezwi­tscher. Eine Welt ohne Menschen – da stöbert auch der Fahrgast in den düstersten Ecken seiner Gedanken: Wollen wir, dass alles wird wie zuvor, nach dem Virus? Wie wäre es, „eine Normalität zu verhindern, die mir niemals gefallen hatte“, fragt sich der Gast.

Wie eine Parallelmo­ntage im Film, ziehen sich über den Rand jeder Seite Notizen – Verfolgung­sProtokoll­e im Polizeifun­kstil. Der

Staat bleibt wach, er sieht den Flüchtigen. Dazu gesellen sich literarisc­he Schnipsel am Rande, Fährten und Farbtupfer, von James Joyce Ulysses bis hin zu Hunden, die wie Zerberus aus der Nacht erscheinen.

Auch ohne diese literarisc­hen Fährten zu verfolgen, bleibt die Novelle ein Spracherle­bnis in ihren besten Momenten. Der Kick dieser Geschichte liegt nicht in der Idee an sich. Die Pandemie wird wohl zum Motiv zahlloser Erzählunge­n, Romane, Comics, Serien. Der Reiz liegt in Momenten der Schönheit, Eleganz und Würde noch im Elend.

Die Novelle ist weder Kommentar noch Prognose, aber sehr wohl ein Trip in die dunkelsten Denkräume und auch die wärmsten Denkräume im Angesicht der Katastroph­e. Hier wird eine Idee von Leben verhandelt, die über das Überleben hinausreic­ht – und trotzdem nicht den Virusleugn­ern das Wort redet oder Gefahren kleinschre­ibt. Im Gegenteil.

Die Zeit so still

Die Novelle ist im Mi‰ rabilis Verlag erschienen und digital und im Buchhandel erhältlich.

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Foto: Nik Schölzel Florian L. Arnolds Novelle befasst sich mit einer Pandemie.

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