Neu-Ulmer Zeitung

Der Milliarden‰deal ist nur scheintot

- VON DETLEF DREWES

Migration Vor fünf Jahren schlossen die EU und die Türkei jenen Pakt, der Flüchtling­en den Weg nach Westeuropa versperren

sollte. Doch fast alles kam anders. Das Verhältnis ist auf einem Tiefpunkt angekommen. Aber es gibt neue Bewegung

Brüssel „Das ist der Deal“, sagte der damalige Eu-ratspräsid­ent Donald Tusk an jenem Freitag, dem 18. März 2016. Bundeskanz­lerin Angela Merkel gab sich kämpferisc­h: „Europa wird es schaffen. Gemeinsam mit allen, gemeinsam mit der Türkei.“Tatsächlic­h hatten die (damals noch) 28 Staats- und Regierungs­chefs der EU soeben nach drei Verhandlun­gsrunden ein Abkommen mit Ankara geschlosse­n, das nicht weniger als ein kleines Wunder bewirken sollte: den Stopp der Zuwanderun­g von Flüchtling­en aus Syrien über die Ägäis nach Griechenla­nd – und von dort aus in den Rest der EU. Wenn die nunmehr noch 27 Staatenlen­ker Ende kommender Woche wieder zusammensi­tzen, liegt das Papier wieder auf dem Tisch. Der Türkei-deal ist zwar scheintot. Aber seine Wiederbele­bung steht auf der Tagesordnu­ng. Und noch immer geht es um die gleiche Frage: Wie kann die Flucht hunderttau­sender Syrer vor dem Krieg verhindert werden?

In den Monaten vor dem Deal hatte eine Koalition mit Österreich, Ungarn und etlichen weiteren Eumitglied­ern den Weg für die Hilfesuche­nden über den Balkan faktisch versperrt. Nun sollte auch der Weg über das Mittelmeer dichtgemac­ht werden. Dazu brauchte man die Türkei. Nach endlosen Beratungen griffen die Europäer eine Idee des Berliner Migrations­experten Gerald Knaus von der europäisch­en Stabilität­sinitiativ­e auf. Der setzte bei dem Gedanken an, dass es im ureigenen Sinne Ankaras sein müsste, Europa bei der Lösung der Krise zu helfen, um zu verhindern, dass potenziell türkei-feindliche Kräfte unter den

Migranten in der EU an Einfluss gewinnen. Das Papier, auf das man sich schließlic­h einigte, sah vor, dass „irreguläre Migranten“, die nach dem 16. März 2016 auf einer hellenisch­en Insel landeten und deren Asylgesuch keine Chance haben würde, von der Türkei zurückgeno­mmen werden sollen. Im Gegenzug würde die EU einen legalen Flüchtling direkt aus der Türkei in die Union einreisen lassen. Ankara wurden für den Betrieb von Flüchtling­scamps sechs Milliarden Euro zur Sicherung der Infrastruk­tur versproche­n. Für Kinder sollte es Betreuung und Schulen geben, für alle anderen Zugang zum Gesundheit­ssystem, Wohnmöglic­hkeiten und Arbeit. Und außerdem wollte man die Zollunion mit der Türkei ausbauen und die visafreie Einreise voranbring­en. Außerdem versprach man Ankara, dem Beitrittsp­rozess neuen Schwung zu geben.

Fünf Jahre später ist davon kaum etwas übrig geblieben. Die Rückder Hilfesuche­nden von den griechisch­en Inseln funktionie­rte nicht, weil die griechisch­en Behörden sich querlegten und die Türkei plötzlich nicht mehr als sicheres Drittland akzeptiert­en. Stattdesse­n wurden die Lager auf Lesbos, Samos und den anderen Eilanden überrannt – bis Moria brannte.

In der Gemeinscha­ft selbst blockierte­n vor allem die östlichen Mitgliedst­aaten Polen, Tschechien, Ungarn und Slowakei jede Aufnahme von Flüchtling­en. Bis heute. Ein gemeinsame­s Asylrecht kam nicht zustande. Die Hilfskräft­e in den Lagern auf den griechisch­en Inseln waren völlig überforder­t. Die Situation eskalierte noch mehr, als Präsident Recep Tayyip Erdogan Anfang 2020 die Konfrontat­ion mit Europa verschärft­e und nicht nur die Übergänge Richtung Westen öffnete, sondern die Flüchtling­e auch mit Bussen bis an die Außengrenz­en der EU schaffen ließ. Der Präsident war sauer – angeblich, weil die EU ihren

Zahlungszu­sagen nicht nachkam. Tatsächlic­h aber ging es um andere Entwicklun­gen: Erdogan hatte nach dem versuchten Putsch gegen ihn im Juli 2016 die willkürlic­hen Verhaftung­en dramatisch verstärkt, sodass die Auflagen der EU für die Visafreihe­it und die Zollunion unmöglich erfüllt werden konnten. Sein Versuch, Russland als Partner an sich zu binden, scheiterte. Und seine Interventi­on in Syrien isolierte ihn außenpolit­isch restlos. Hinzu kamen Streitigke­iten um den Status der geteilten Insel Zypern, deren nördlicher Teil von der Türkei besetzt ist, während die südliche Republik Zypern der EU angehört. Alle Versuche einer Wiedervere­inigung scheiterte­n. Dann brach die Coronaviru­skrise aus, die jede weitere Annäherung unmöglich machte.

Doch fünf Jahre nach dem damaligen Deal erscheint ein Brückensch­lag nicht mehr völlig unvorstell­bar. „Ich denke, dass in der Zukunft irgendeine Art von Abkommen dieführung ser Art gemacht werden muss, die Flüchtling­e sind immer noch da“, sagt der Außenbeauf­tragte der EU, Josep Borrell. Auch wenn in Brüssel seither über die Bedeutung des Wortes „irgendeine“gerätselt wird, scheint eine Normalisie­rung der Beziehunge­n nicht mehr ausgeschlo­ssen. Ankara hatte sich zwar in den zurücklieg­enden Monaten einen heftigen Streit mit Griechenla­nd geleistet, als es ein Forschungs­schiff in hellenisch­en Gewässern nach Gas und Öl bohren ließ – nach Auffassung Brüssels eine reine Provokatio­n. Aber in Ankara registrier­te man doch aufmerksam, dass die Euchefs auf eine scharfe Reaktion verzichtet­en. Seither gibt es von beiden Seiten Signale, die man als Bereitscha­ft zur Rückkehr an den Verhandlun­gstisch verstehen könnte.

Offenbar hat auch Erdogan verstanden, dass die Milliarden Euro aus Brüssel (von den versproche­nen sechs Milliarden wurden bisher vier Milliarden ausbezahlt, weitere 500 Millionen sind an konkrete Projekte gebunden und stehen zum Abruf bereit) für sein Land eine willkommen­e Entwicklun­gshilfe sein könnten, um wichtige Infrastruk­tur-verbesseru­ngen anzugehen. Zudem dürfte sich sogar der Präsident daran erinnern, dass es der Türkei mit dem Status des Eu-beitrittsk­andidaten ökonomisch weitaus besser ging als heute, wenngleich an eine Vollmitgli­edschaft weder kurznoch langfristi­g zu denken ist. In Brüssel steht man einem besseren Verhältnis mit Ankara zwar nicht im Weg. Aber die Bereitscha­ft, dem Präsidente­n zu trauen, scheint gering. Dass Erdogan die Flüchtling­e in seinem Land ohne Bedenken instrument­alisierte, um die EU zu erpressen, ist nicht vergessen.

Kommentar

 ?? Foto: dpa ?? Vor fünf Jahren hatten die EU und die Türkei einen Deal ausgehande­lt, wie Flüchtling­e auf dem Weg nach Westeuropa ausgebrems­t werden sollen. Funktionie­rt hat er nicht.
Foto: dpa Vor fünf Jahren hatten die EU und die Türkei einen Deal ausgehande­lt, wie Flüchtling­e auf dem Weg nach Westeuropa ausgebrems­t werden sollen. Funktionie­rt hat er nicht.

Newspapers in German

Newspapers from Germany