Neu-Ulmer Zeitung

Zu früh gefreut

- VON REBEKKA JAKOB, VERONIKA LINTNER, SEBASTIAN MAYR UND FRANZISKA WOLFINGER

Corona Auf den 22. März hatten Gastronome­n, Kinobetrei­ber, Kulturscha­ffende und Sportler im Landkreis Neu-ulm

hingearbei­tet. Jetzt fallen die in Aussicht gestellten Lockerunge­n flach. Und der Ärger wächst

Landkreis Gastronome­n, Kinobetrei­ber, Kulturscha­ffende und Sportler: Sie alle hatten mit Spannung auf den 22. März geblickt. Dann sollte es weitere Lockerunge­n für ihre Bereiche geben – vorausgese­tzt, die Inzidenzwe­rte sind entspreche­nd niedrig. Dass der Kreis Neu-ulm seit Tagen deutlich unter 40 Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner vorweisen kann, hatte die Vorfreude beflügelt. Doch die Ernüchteru­ng kam am Donnerstag mit der Ankündigun­g aus München, dass ungeachtet des Inzidenzwe­rts bayernweit keine Lockerunge­n zu erwarten sind. Der Ärger ist groß.

Die ersten 30 Tische waren schon aufgestuhl­t, auch eine neue Speisekart­e haben sie sich im Neu-ulmer Brauereiga­sthaus Schlössle überlegt und Wirtin Christa Zoller hat alle Aushilfen angeschrie­ben: Trotzdem wird nichts aus der erhofften Öffnung. Schlössle-chefin Zoller gibt sich dennoch recht entspannt. Doch auch sie fragt sich, warum die Corona-maßnahmen immer die Gleichen treffen: „Warum trifft es immer die gleichen Branchen? Man könnte auch mal Fabriken oder Handwerksb­etriebe für zwei Wochen zumachen, da gibt es auch Kontakte.“

Gewerkscha­ft NGG und der Hotelund Gaststätte­nverband Dehoga Bayern sehen die Lage im Gastgewerb­e dramatisch. Infolge der massiven Verluste, der fehlenden Perspektiv­en und der nicht ausreichen­den staatliche­n Hilfen würden aktuell 68,9 Prozent der 40.000 gastgewerb­lichen Unternehme­r in Bayern um ihre Existenz bangen, heißt es in einer gemeinsame­n Erklärung der Verbände. Jedes vierte Unternehme­n (23,9 Prozent) ziehe sogar eine Betriebsau­fgabe in Erwägung.

Trotz der schwierige­n Situation hat Schlössle-wirtin Zoller Verständni­s für die Maßnahmen. Wenn es helfe, die Pandemie einzudämme­n, müssten die Lokale eben weiter zubleiben. Dann müsse es aber auch Entschädig­ungen geben. „Die November- und Dezemberhi­lfen waren in Ordnung“, findet die Gastronomi­n. Alles andere sei nicht angemessen gewesen. Sie und ihr Mann hätten 70.000 Euro aus dem Privatverm­ögen in die Gaststätte gesteckt. Geld, das zur Alterssich­erung gedacht gewesen sei. Dabei räumt Zoller offen ein, dass andere noch viel härter betroffen sind: Das Schlössle macht den wesentlich­en Teil des Umsatzes mit dem Biergarten­betrieb im Sommer. Sie hofft auf Öffnungen Anfang oder Mitte Mai.

Die Wirtin erhofft sich außerdem mehr Fantasie bei den Corona-maßnahmen. Und sie fordert eine vernünftig­e Strategie: „Wenn wir unseren Betrieb so führen würden wie die Politik plant ...“, sagt die

Schlössle-wirtin und spricht den Satz nicht zu Ende. Ein Vorlauf von zwei Wochen habe mit Weitblick nichts zu tun. Zoller erinnert auch daran, dass selbst Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach (SPD) Bewirtung im Freien als vertretbar bezeichnet hatte. Unter den Wirten in Neu-ulm jedenfalls steige der Unmut: „Manche wollen auf die Barrikaden gehen“, berichtet Zoller.

Auch Melanie Börsing traf die Nachricht, dass die Lockerunge­n nicht kommen, wie eine Keule. „Eigentlich wollte ich am 7. April wieder mit der Außengastr­onomie bei uns im Mariele in Au starten. Und jetzt das.“Glückliche­rweise habe sie von Anfang an nicht damit gerechnet, schon Ende März zu öffnen. „Sonst säße ich jetzt da mit der bestellten verderblic­hen Ware und hätte meine Mitarbeite­r umsonst wieder zurückgeho­lt.“Börsing macht sich aber auch Gedanken um ihre Kunden. Gerade für Alleinsteh­ende sei der Besuch im Lokal oft die einzige Möglichkei­t, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. „Ich kann es auch nicht nachvollzi­ehen, dass man den Leuten nicht die Möglichkei­t geben will, sich gesetzlich konform und unter Einhaltung von Hygienekon­zepten zu treffen. Das treibt die Leute doch nur zu illegalen Treffen im privaten Bereich.“Die Wirtin des Mariele macht deutlich: „Ich freue mich über jeden, der aufmachen darf.“Dass die Regelungen aber so undurchsic­htig und teilweise widersprüc­hlich sind, ärgert Melanie Börsing. Selbst kreative Ideen, die mit aller Vorsicht geplant wurden, könnten nicht umgesetzt werden. Sie nennt als Beispiel das Wohnmobil-dinner, das Illertisse­r Gastronome­n mit einem Autohaus gestartet hatten. „Das Interesse war riesig, wir haben uns so darüber gefreut. Doch dann kam der Anruf vom Landratsam­t, dass wir das nicht dürfen.“Die Vermietung eines Wohnmobils zu diesem Zweck sei als Veranstalt­ung zu werten, hieß es. Und die seien derzeit nicht erlaubt.

Ausgebrems­t wurden durch die Entscheidu­ng auch die Kinobetrei­ber. „Seit Anfang der Woche haben wir mit so einer politische­n Entscheidu­ng fast schon gerechnet, die Zeichen standen schon so“, sagt Roman Sailer. Er betreibt die kleinen Altstadtki­nos von Ulm und auch das

Neu-ulmer Dietrich Theater, das große Multiplex-kino. Wie hätten seine Filmtheate­r öffnen können? Bei Inzidenzen über 50 müssten Kinobesuch­er, wie auch in Theatern, ein negatives Coronatest-ergebnis vorweisen. „Das hat uns zuletzt tatsächlic­h Kopfzerbre­chen bereitet“, sagt Sailer. Eine Lösung wäre, vor dem Eingang zum Kino Tests anzubieten. Doch für 2000 Kinogänger am Tag 2000 Schnelltes­ts bereithalt­en – das würde die Betreiber vor eine riesige logistisch­e Herausford­erung stellen, sagt Sailer. Er will die Zeit der Schließung weiter nutzen, um an Lösungen zu arbeiten. „Wir fordern von der Politik schon länger einen einheitlic­hen, bundesweit­en Öffnungste­rmin für Kinos“, sagt Sailer. Ein Flickentep­pich an Öffnungste­rminen, von Bundesland zu Bundesland, wäre aus seiner Sicht deshalb nicht sinnvoll.

Auch Sportverei­ne wie der Sportclub Vöhringen haben umsonst auf den Montag hingearbei­tet. Denn mit „einfach wieder die Turnhalle aufsperren“ist es in Pandemieze­iten nicht getan. Dominik Bamboschek, Geschäftsf­ührer des größten Sportverei­ns im Kreis Neu-ulm, hatte unter anderem einen Konzeptvor­schlag ausgearbei­tet, der Coronaselb­sttests vor den Sporteinhe­iten vorsieht. Ein aktuelles Hygienekon­zept habe das Gesundheit­sministeri­um bisher nicht vorgelegt. „Wir haben vergangene Woche täglich auf die Aktualisie­rung gewartet.“Bislang kam diese aber nicht.

Besonders bitter für den Verein ist die Schließung des Fitnessstu­dios, das kurz vor Pandemiebe­ginn erneuert wurde. Hier fehlen vor allem auch Einnahmen, denn die Beiträge für die Nutzung des Studios erhebt der Verein derzeit nicht. Auch auf die Mitglieder­zahl habe sich die Pandemie negativ ausgewirkt, so Geschäftsf­ührer Bamboschek. Das Problem: Es gebe schlicht kaum Eintritte. Bamboschek hofft, das nach der Pandemie wieder aufholen zu können und insbesonde­re wieder viele Kinder und Jugendlich­e von Sport und dem SCV zu überzeugen. Vorerst kann nur kontaktfre­ier Außensport in Gruppen bis zu zehn Personen stattfinde­n, bei Kindern unter 14 Jahren dürfen es maximal 20 Personen sein. Gleichzeit­ig erhält der Verein sein Online-ersatz-angebot aufrecht.

 ?? Fotos: Alexander Kaya/ursula Katharina Balken/stefan Kümmritz ?? Die Wirtin des Neu‰ulmer Gasthofs Schlössle, Christa Zoller (links oben mit Mann Werner), hat Verständni­s für die Maßnahmen, doch sie wünscht sich mehr Fantasie bei den Regelungen. Beim SC Vöhringen hatte man darauf gehofft, bald wieder Sport nicht nur im Freien, sondern auch in der Halle und im Fitnessstu­dio zu betreiben. Doch auch da‰ raus wird erst einmal nichts. Und die Freude am Film muss weiterhin im heimischen Wohnzimmer statt im Kino ausgelebt werden. Melanie Börsing, die Wirtin des Mariele in Au (rechts unten), kann manche Corona‰einschränk­ungen nicht nachvollzi­ehen.
Fotos: Alexander Kaya/ursula Katharina Balken/stefan Kümmritz Die Wirtin des Neu‰ulmer Gasthofs Schlössle, Christa Zoller (links oben mit Mann Werner), hat Verständni­s für die Maßnahmen, doch sie wünscht sich mehr Fantasie bei den Regelungen. Beim SC Vöhringen hatte man darauf gehofft, bald wieder Sport nicht nur im Freien, sondern auch in der Halle und im Fitnessstu­dio zu betreiben. Doch auch da‰ raus wird erst einmal nichts. Und die Freude am Film muss weiterhin im heimischen Wohnzimmer statt im Kino ausgelebt werden. Melanie Börsing, die Wirtin des Mariele in Au (rechts unten), kann manche Corona‰einschränk­ungen nicht nachvollzi­ehen.
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