Zerstobene Hoffnung
Die Lebenszufriedenheit nimmt ab, Stress und Sorgen nehmen zu. Experten untersuchen,
welche langfristigen Folgen die Pandemie auf die Psyche haben könnte
Zur Erregung kommt für Borwin Bandelow von der Universität Göttingen noch eine weitere zentrale Emotion: „Jeder Dritte in Deutschland gehört zu einer Risikogruppe: Die Menschen haben Angst – auch weil man durchhalten muss, bis man irgendwann mit dem Impfen an der Reihe ist.“Insgesamt kämen die Menschen aber besser als erwartet mit der Pandemie zurecht, so der Professor für Psychiatrie und Psychotherapie. „Noch zu Beginn war davon ausgegangen worden, dass die Zahl der Suizide steigen wird – das ist ebenso ausgeblieben wie der Andrang auf psychiatrische Praxen.“
Zudem habe sich das Angstgefühl in den vergangenen zwölf Monaten verändert, so Bandelow: „Wir können uns das Gehirn wie eine riesige Behörde mit verschiedenen Abteilungen vorstellen.“Eine Abteilung bilde das intelligente Vernunftgehirn, das Zahlen und Fakten verarbeite. Daneben gebe es aber auch das primitive Angstgehirn, das in neuen Situationen anspringe. „Das
hat im ersten Lockdown beispielsweise dafür gesorgt, dass viele Menschen Klopapier und Mehl hamsterten.“
Andere mache es anfälliger für Verschwörungstheorien: „Das sind keine unintelligenten Menschen, aber das Angstgehirn hat keinen Hochschulabschluss: Wenn es zu stark wird, lässt man sich von einfachen Erklärungen überzeugen.“Inzwischen habe sich die Angst bei vielen in Richtung Impfen verlagert: „Die Impfungen stellen wieder eine unbekannte Situation dar, die das Angstgehirn aktiviert.“
Doch nicht nur Ängste haben sich im vergangenen Jahr verschoben, sondern auch die Aufmerksamkeit für bestimmte Gruppen. Im ersten Lockdown standen zum einen das medizinische Personal, zum anderen ältere Menschen und dabei vor allem solche, die in Pflegeheimen leben, im Fokus. Mittlerweile wird auch darüber diskutiert, was die Pandemie mit Jüngeren macht – zu Recht, wie die zweite Befragung der Copsy-studie des Universitätsklinikums Hamburg-eppendorf zeigt.
„Bereits bei der Befragung im Mai und Juni 2020 waren wir überrascht, dass die Folgen des ersten
Lockdowns so deutlich zu sehen waren“, erinnert sich Studienleiterin Ulrike Ravens-sieberer. Noch stärker habe der zweite Lockdown gewirkt. In der Erhebung von Dezember 2020 bis Januar 2021 sagten 85 Prozent der befragten Kinder zwischen 7 und 17 Jahren, sich in der Corona-krise belastet zu fühlen. Sieben von zehn Kindern empfanden ihre Lebensqualität als gemindert, Ängste, Sorgen und depressive Verstimmungen nahmen zu.
Die Befragung der Eltern habe ergeben, dass auch bei ihnen zunehmend depressive Verstimmung und Erschöpfung aufträten. „Organisatorisch kamen Familien besser durch den zweiten Lockdown, aber die Belastungen brachten die Eltern ans Limit“, sagt die Professorin für Kinder- und Jugendgesundheit.
Gerade deren Befinden wirke sich aber direkt auf das der Kinder aus, unterstreicht Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Charité Berlin. Für die Jüngeren bedeuteten die Einschränkungen, dass sie sich nicht mehr in dem Bereich bewegen könnten, der für sie konstituierend sei, nämlich der mit den etwa Gleichaltrigen geteilte Raum. „Hinangstgehirn zu kommt die Unsicherheit: ‚Was ist mit meinen Noten? Was mit meiner Zukunft?‘“, zählt Correll auf.
Correll wie auch Ravens-sieberer sehen vor allem jene Kinder als am meisten gefährdete Gruppe, die schon vor Ausbruch der Krise sozial belastet waren, in engen Wohnverhältnissen lebten oder deren Eltern eine bereits bestehende psychische Erkrankung hatten. Denn für Kinder in instabilen familiären Strukturen brächen die wichtigen Lebenswelten
Das Angstgefühl hat sich im vergangenen Jahr verändert
Eltern fühlen sich zunehmend erschöpft
Schule und Freunde weg, so Ravens-sieberer. Für sie und ihre Eltern müssten einfach zugängliche Hilfsangebote geschaffen werden. Ravens-sieberer warnt indes davor, eine psychische Belastung mit einer psychischen Erkrankung gleichzusetzen: „Wir befinden uns derzeit in einer Krise und sehen eine Reaktion darauf. Das heißt aber nicht, dass diese zu einer nachhaltigen gesundheitlichen Veränderung führt.“
Auch Christoph Correll ist überzeugt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen die Corona-krise ohne anhaltende Folgen verarbeiten werden: „Allerdings befinden sie sich noch in der Persönlichkeitsformung. In jener Phase formt sich unser Selbstbild auch dadurch, wie wir Probleme lösen können, und da verändert sich gerade sicher etwas.“
Längerfristige Veränderungen stehen auch im Mittelpunkt der Coh-fit-untersuchung, einer internationalen Studie zur psychischen Gesundheit in der Pandemie, an der die Charité beteiligt ist. In Deutschland wurden bereits 10000 Menschen dazu befragt, geplant sind zusätzlich Befragungen sechs Monate sowie 1,5 bis 2 Jahre nach der Pandemie. Schon vor der zweiten Welle hatte die Studie ergeben, dass es einem Drittel der Bevölkerung schlechter ging – und hier vor allem jungen Menschen sowie Frauen, die unter der Mehrfachbelastung von Beruf, Haushalt und Homeschooling litten. „13 Prozent gaben aber an, profitiert zu haben, indem sie weniger Stress und weniger Einsamkeit bemerkten“, erklärt Correll.
Ein ähnliches Ergebnis für den zweiten Lockdown sei hingegen fraglich: „Die positiven Effekte schmelzen jetzt, gleichzeitig steigen Gefühle der Hilflosigkeit und fehlenden Kontrolle.“Insgesamt hätten Dosiseffekt, Dauer und Schweregrad der Pandemie zugenommen: „Die Situation hört nicht auf und wird schlimmer, ohne dass ein Ende in Sicht ist.“Dies führe zu dauerhaftem Stress. „Den kann man durchhalten, wenn man weiß, wann der Zustand vorbei ist“, merkt Correll an. Aber genau jener Endpunkt sei unsicher. „Und diese Unsicherheit ist Lethargie fördernd, entsprechend beobachten wir gerade bei einigen eine Erschöpfungslethargie.“
Umso wichtiger sei es, sagt Sozialpsychologe Wagner, dass die Politik nicht nur Verbote, sondern auch Erfolge kommuniziere: „Auch muss sie sagen, wenn man etwas nicht wissen kann, so wie bei den neuen Corona-mutanten.“Vor allem aber müsse es darum gehen, die Gründe für Schutzmaßnahmen besser zu erklären. „Und das bedeutet auch, auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Wissenslücken zu schließen: Warum wissen wir etwa immer noch nicht, was die Hauptinfektionsorte sind?“Und schließlich könne es helfen, die Maßnahmen vor allem auf lokaler Ebene zu konzentrieren und zu vermitteln: „Das würde das Gefühl stärken, durch angemessenes Verhalten selbst etwas zur Verbesserung der Situation beitragen zu können“, so Wagner.
Insgesamt glaube er aber nicht, dass die psychische Gesundheit der Mehrheit dauerhaft durch die Pandemie verändert werden. Auch Angstexperte Bandelow prognostiziert keine langfristigen Effekte: „Selbst wenn die Pandemie uns noch zwei Jahre begleiten sollte, wird sich danach alles nivellieren, im Guten wie im Schlechten.“Er erwartet allenfalls direkt nach der Rückkehr in den Alltag einige Überschwangsreaktionen: „Vielleicht werden sich die Menschen einige Zeit viel umarmen – aber auch das wird vorbeigehen.“
Alice Lanzke (dpa)