Kind in Türkei verschleppt – Vater zu Haft verurteilt
Justiz Ein Mann hat Angst, sein Sohn würde bei einer psychiatrischen Behandlung in Ulm vergiftet und fährt mit dem Jungen in die Türkei. Dort sitzt das Kind seit 13 Monaten in einem Jugendheim fest
Neuulm Seit etwas mehr als 13 Monaten lebt ein heute siebenjähriger Bub aus dem Kreis Neu-ulm in einem Jugendheim in der türkischen Stadt Edirne. Der Mann, der das verschuldet hat, ist am Donnerstag vom Amtsgericht Neu-ulm wegen Entziehung Minderjähriger zu einer Haftstrafe von sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt worden. Es ist der Vater des Jungen, der seinen Sohn ins Heimatland seiner Eltern gebracht hat. Der Mann und sein Anwalt sagen, alles sei aus Sorge um das Kind geschehen. Die tragischen Folgen habe keiner vorhergesehen.
Das Kind wurde im Februar und März 2020 stationär in der Ulmer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/psychotherapie behandelt. Die Ärzte dort hätten massive Entwicklungsverzögerungen bei dem Jungen festgestellt und eine weitere Behandlung vorgeschlagen, die nur in sehr wenigen Einrichtungen möglich sei. Sie habe zugestimmt – der Vater habe sich dagegen verwehrt. So schilderte es die Mutter, die als Zeugin im Prozess aussagte und als Nebenklägerin auftrat. Daraufhin, so die Frau weiter, habe der zuständige Familienrichter angekündigt, die nötige Behandlung notfalls juristisch und gegen den Willen des Vaters durchzusetzen. Das war am 2. März 2020, das nächste Treffen war für den 9. März geplant.
Am 7. März, einem Samstag, holte der Vater seinen Sohn aus der Klinik ab. Angeblich, um mit ihm zum Schwimmen zu gehen. Gegen 22 Uhr klingelte die Polizei an der Tür der Mutter und fragte nach dem Jungen. Wie sich später herausstellte, hatte der Vater seinen Sohn mit dem Auto bis an die bulgarisch-türkische Grenze mitgenommen. Dort sollen die Pässe der Reisenden eine Stunde lang kontrolliert worden sein. Der Vater soll Angst bekommen haben, dass sein Plan scheitern könnte. Darauf soll er mit dem Kind zu Fuß die Grenze überquert haben. Für Verteidiger Maximilian Pauls ist das ein Beleg dafür, dass der Mann sich in einem Ausnahmezustand befand: „Ein rationaler Vater rennt nicht mit seinem Kind nach einer 16-stündigen Autofahrt nachts ohne Pässe in die Wildnis.“
Doch was war überhaupt der Plan? Die Staatsanwaltschaft warf dem heute 33 Jahre alten Mann vor, er habe das Kind der Mutter dauerhaft entziehen wollen. Der Vater und sein Verteidiger dagegen betonten, der Mann habe das Kind bloß vor dem vermeintlich schädlichen Klinikaufenthalt retten wollen. Die Mutter bestätigte: Der Vater habe zu ihr gesagt, das Kind werde mit Medikamenten vergiftet. Der Plan jedenfalls, so Vater und Verteidiger, sei nur gewesen, in die Türkei zu reisen. Dort habe man fürs Erste beim Vater des heute 33-Jährigen unterkommen und dann weitersehen wollen. Langfristige Pläne habe es nicht gegeben. Die Reise selbst sei ein „Kurzschluss“gewesen.
Wie es dazu kam, beschreibt der Vater des heute Siebenjährigen so: Er habe sich Sorgen um sein Kind gemacht und bei verschiedenen Stellen Rat gesucht. In einem Gespräch sei er gewarnt worden, dass er seinen Sohn erst nach dessen 18. Geburtstag zurückbekommen werde, wenn das Kind die weitere Behandlung antrete. Davor, sagte der Mann, habe er sein Kind retten wollen. Auch die Mutter, heute 35 Jahre alt, bestätigte: Ihr früherer Partner habe gesagt, der Bub werde im „deutschen System“kaputtgehen. Sie ist dagegen überzeugt: „Das Kind wurde systematisch kaputtgemacht durch die psychischen Probleme, die in der Familie schon vorgelegen haben.“Das Kind war zunächst bei der Mutter aufgewachsen, die dann aber für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis musste. Das Kind zog zur Familie des Vaters.
Um den Jungen zu retten, nahm der Mann am 7. März 2020 eine viele Stunden dauernde Autofahrt auf sich. Aus Unterlagen bulgarischer Behörden, die unserer Redaktion vorliegen, geht hervor, dass er nicht alleine war. Dem Vernehmen nach laufen auch Ermittlungen gegen Familienangehörige des Mannes. Dieser machte vor Gericht keine Angaben zu Verwandten und auch nicht zur Autofahrt – er wolle keine Namen von Mitgliedern seiner Familie nennen, begründete sein Anwalt.
Der Vater habe nicht damit gerechnet, dass ihm die türkischen Behörden das Kind wegnehmen und in ein Jugendheim stecken würden. „Er wollte sein Kind schützen“, betonte Anwalt Pauls. Nun sei der Mann am Boden zerstört. Er betrachte sein Handeln als den größten Fehler seines Lebens. Jetzt sehe er sich jeden Tag Bilder seines Sohnes an, telefoniere so oft wie möglich mit dem Buben und habe versucht, das Kind zurückzuholen. Das hat auch die Mutter getan, die sich um Spenden und Unterstützer bemühte und viele Male mit dem Jugendamt des Landkreises Neu-ulm in Kontakt stand. Die Behörde hat seit 9. März 2020 das alleinige Sorgerecht für den Jungen; die Mutter hat ihres freiwillig abgegeben, dem Vater ist es entzogen worden. Bislang scheiterten alle Versuche, das Kind wieder nach Deutschland zu bringen.
Seit Juli 2020 telefonieren Vater und Sohn nur noch einmal im Monat miteinander. Der Mann sitzt in der Justizvollzugsanstalt Kempten ein. Er hat gegen Auflagen verstoßen und muss nun gegen Bewährung ausgesetzte Haftstrafen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis absitzen. Bevor der heute 33 Jahre alte Mann seine Haft antrat, hat er nach eigenen Angaben seinen Sohn im Jugendheim besucht. „Ich bin da hin und habe ihm einen ganzen Koffer voller Spielsachen gebracht“, berichtete er.
Dem Kind geht es in der Jugendhilfeeinrichtung in Edirne nach Angaben der Eltern körperlich gut. „Immer, wenn ich ihn anrufe, weint er“, berichtete die Mutter. Der heute 33-jährige Vater leidet selbst an psychischen Erkrankungen, wie ein Befund des Universitätsklinikums Ulm aus dem Jahr 2019 bestätigt. Eineinhalb Jahre lang war er deswegen krankgeschrieben. Das weise auf eine verminderte Schuldfähigkeit hin, sagte Richterin Antje Weingart in ihrer Urteilsbegründung. Bei einem Rechtsgespräch zu einem möglichen Vergleich hatte es zuvor keine Einigung gegeben.
„Ich glaube Ihnen sogar, dass Sie kein schlechter Vater sind“, sagte die Staatsanwältin. Doch der Mann habe eine Straftat mit schweren Folgen begangen. Sie forderte eine Haftstrafe von zehn Monaten, der Verteidiger plädierte auf eine Geldstrafe. Die vor allem für das Kind tragischen Folgen habe sein Mandant nicht absehen können, sagte er. Auch habe es sich nicht um einen länger gefassten Plan gehandelt. Die Richterin sah beides anders. Sie ging in ihrer Urteilsbegründung von einer Absicht aus, die bereits mehrere Tage vor der Reise gefasst worden sei. Und sie berücksichtigte die schweren Folgen für den heute sieben Jahre alten Jungen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.