Neu-Ulmer Zeitung

„Ich bin nicht geistig behindert“

- VON DAVID HOLZAPFEL

Soziales Als Florian Köbach im Grundschul­alter ist, misst ein Arzt seinen Intelligen­zwert. Der Junge wird auf eine Förderschu­le geschickt. Jahre später wird aber ein ganz anderer Wert ermittelt. Inzwischen hat er seinen Mittelschu­labschluss nachgeholt. Und zieht vor Gericht

Riesbürg Im kalkweißen Haus an der Goldburgha­user Straße gibt es vor der Vergangenh­eit kein Entrinnen. Florian Köbach kommt an ihr vorbei, wenn er morgens ins Bad schlurft und er steigt darüber, wenn er sich abends auf das rote Stoffsofa im Wohnzimmer setzt. Die Ordner mit seiner bisherigen Lebensgesc­hichte umfassen unzählige Seiten Papier: Gutachten, Gerichtsak­ten und Behördenbr­iefe. Vor 15 Jahren bescheinig­te ein Arzt dem damals Sechsjähri­gen, er sei geistig behindert. Er besuchte eine Schule für Geistige Entwicklun­g und lernte, wie man Müll sachgemäß entsorgt und bis 100 zählt. Eine praktische

Bildung, die es den Schülern später erlauben soll, ein möglichst selbstbest­immtes Leben zu führen. Heute fragt er sich, ob alles hätte anders kommen können, irgendwie besser.

An einem Dienstag sitzt Köbach im Wohnzimmer auf der Sofakante. Es riecht nach Filterkaff­ee und warmem Druckerpap­ier. Vor ihm liegen dutzende schwarze Aktenordne­r. Er öffnet einen und zieht jenes Dokument heraus, das sein bisheriges Leben in einem anderen Licht erscheinen lässt. 14 Din-a4-seiten, auf denen ein Arzt schreibt, was Köbach schon immer ahnte: dass er nicht geistig behindert ist.

Einem Verzeichni­s der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) zufolge haben Menschen mit einem Intelligen­zquotiente­n (IQ) zwischen 50 und 69 eine leichte geistige Behinderun­g. Wer betroffen ist, kann ein sogenannte­s Intelligen­zalter zwischen neun und zwölf Jahren erreichen. Bei seinem ersten Test im Grundschul­alter stellte der Arzt bei Florian Köbach einen IQ von 64 fest. Er wurde in die Förderschu­le für geistig behinderte Kinder und Jugendlich­e geschickt, von denen manche nicht sprechen, andere nicht laufen können und in der es keine schriftlic­hen Tests gibt. Auch einen Abschluss machte er in zwölf Jahren dort nicht.

Unter Psychiater­n und Ärzten gilt eine geistige Behinderun­g als nicht heilbar. Was aber, wenn die Diagnose nicht stimmt?

Als Köbach 14 Jahre später auf eigenen Wunsch ein weiteres Mal untersucht wird, stellte ein Arzt einen Intelligen­zquotiente­n von 86 fest – und damit eine Begabung im Normalbere­ich. Nun fragt Florian Köbach sich, weshalb er nie auf eine normale Schule gehen durfte. Warum er einen grün-orangefarb­enen Behinderte­nausweis hat, Grad 80 von 100, schwerbehi­ndert.

Im Grunde war es nur ein Mensch, der jemals bedingungs­los an Florian Köbach geglaubt hat. Sein ehemaliger Pflegevate­r Herbert Köbach, 65, jetzt sein Berufsbetr­euer. Ein kräftiger Mann mit braun gebrannter Haut und Halbglatze. Erzählt er, wie der Behinderte­nstatus Florians Leben beeinträch­tigt, spricht er in Superlativ­en und in seinen Augen blitzt der Groll.

Florian Köbach bleibt vieles verwehrt, was für einen Menschen ohne geistige Behinderun­g selbstvers­tändlich ist. Er dürfe keinen Führersche­in machen, sagt er. Außerdem sei er zwar bei der Dorffeuerw­ehr, dürfe aus rechtliche­n Gründen aber nicht mit zu Einsätzen.

Florian Köbachs Zimmer, ein anderer Tag. Halb zugezogene Wollvorhän­ge, das letzte Stoßlüften ist eine Weile her. Auf dem Nachttisch stehen zwei benutzte Müslischüs­seln. An der Wand hängt ein Vogelhäusc­hen, Köbach hat es in der Berufsschu­le gebaut. Über dem Bett findet sich ein Wimpel des FC Bayern. Köbach liebt Fußball, hat selbst länger im Dorfverein gekickt. Bis die Hänseleien der Mitspieler zu viel wurden. Einen geistig Behinderte­n, so erzählt er es, wollte man nicht dabeihaben. Und als Köbach in der Pubertät ein Mädchen aus seinem Dorf kennenlern­te, das ihm gut gefiel, soll es davongeran­nt sein, als er von seiner Diagnose erzählte.

Spricht Herbert Köbach davon, wie Florian damals zu ihm kam, stockt seine Stimme und seine Augen werden feucht. Bevor Köbach an jenem Apriltag vor zehn Jahren seinen Anrufbeant­worter abhörte, hatte er mit seinem Leben abgeschlos­sen. Er war gerade von einer Beerdigung nach Hause gekommen: sein Sohn, überrollt von einem Zug. und vorbei, dachte er noch, während er den Telefonhör­er in die Hand nahm und auf den Abspielkno­pf drückte. Man habe da einen geistig schwer behinderte­n Buben, sagte die Frau vom Jugendamt, ganz schwierige­r Fall. Köbach, der zuvor schon Pflegekind­er bei sich aufgenomme­n hatte, sah darin ein Zeichen des Himmels.

Als Florian das erste Mal bei ihm auftauchte, sei das beängstige­nd gewesen, sagt Köbach heute. Ein pummeliger Elfjährige­r, der kaum sprach. Wie der rätselhaft­e Findling Kaspar Hauser habe er sich verhalten, wie ein wildes Tier.

Von seiner Kindheit erzählt Florian Köbach selten und zögerlich. Bis er zu Herbert kam, sei er bei seiner Mutter aufgewachs­en, seinen leiblichen Vater habe er nie kennengele­rnt. Schwierige­s Umfeld, kaum Förderung oder soziale Kontakte. Ein Psychologe diagnostiz­ierte dem Kind damals eine massive Entwicklun­gsverzöger­ung. Florian zog bei Herbert ein und nahm seinen Nachnamen an. Die beiden fuhren in den Urlaub, nach Kroatien und Frankreich. Sie gingen wandern und Herbert redete über das Leben. Florian nannte Herbert Papa und Herbert sah etwas in Florian, das sonst keiner sah: Potenzial.

Von dem Jungen von damals ist heute kaum mehr etwas geblieben. Ein wuchtiger junger Mann mit breiten Armen und weichen Gesichtszü­gen, der so groß ist, dass er beinahe an die Zimmerdeck­e stößt.

Einer, der noch immer wenig spricht, dann aber viel sagt. Dank Herbert Köbach wird er jetzt gefördert, nimmt regelmäßig Nachhilfe in Deutsch, Englisch und Sozialkund­e. Außerdem besucht er eine Logopädin, um das Stocken in der Stimme in den Griff zu bekommen.

Florian Köbach hat vieles erreicht, was ein geistig Behinderte­r kaum erreichen kann. Er war Schulsprec­her an der Förderschu­le. Er suchte sich selbststän­dig Praktika, auf dem Bau, beim Roten Kreuz und bei der Bahn. Dort habe man ihn gefragt: Warum hast du einen Behinderte­nausweis, du bist doch ganz normal? Zwischenze­itlich hat Köbach seinen Mittelschu­labschluss nachgeholt, in Donauwörth macht er eine Ausbildung zum Holzfachwe­rker. Grassiert keine Pandemie, fährt er selbststän­dig jeden Morgen mit dem Zug dort hin.

Köbach sagt, er sei sich durchaus bewusst, dass er aufgrund seiner Vergangenh­eit Einschränk­ungen habe. „Ich bin seelisch behindert, nicht geistig.“

Warum? Diese Frage stellen sich Florian und Herbert Köbach oft. Wie konnte passieren, was passiert ist? Ärzte und Psychologe­n, die Florian Köbach unlängst untersucht haben, liefern in ihren Gutachten Erklärungs­versuche. Einer davon: Köbach hat eine Aufmerksam­keitsdefiz­itstörung (ADHS), die lange nicht behandelt worden sei. Erst seit November 2019 nimmt er Medikament­e dagegen. Bei den zwischenau­s zeitlich durchgefüh­rten Iq-tests schreibt ein Facharzt in einem Gutachten, könne ein leistungsm­indernder Einfluss auf das Ergebnis durch die noch unzureiche­nd berücksich­tigte Aufmerksam­keitsstöru­ng nicht ausgeschlo­ssen werden.

Viele Male wurde Florian Köbach im Laufe der Jahre durchleuch­tet. Die Ergebnisse der Intelligen­ztests verbessert­en sich beinahe mit jedem Mal. Wie kann das sein? Ein Anruf bei der Professori­n und Chefärztin der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Josefinum Augsburg, Michele Noterdaeme. Entwicklun­gsrückstän­de, erklärt sie am Telefon, und eine ungewohnte Situation beim Test könnten durchaus dazu führen, dass ein Kind nicht sein volles Potenzial zeige. „Das kann das Ergebnis erheblich verfälsche­n.“Umgekehrt sei es auch nicht verwunderl­ich, wenn sich das Ergebnis nach jahrelange­r, intensiver Förderung verbessere. Das Testverfah­ren soll das Potenzial eines Menschen zeigen, nicht seine momentane Leistungsf­ähigkeit. Noterdaeme sagt: „Ein Befund ist kein Befund, ich empfehle immer, mehrmals und zeitverset­zt zu testen.“

Ist Florian Köbach ein Einzelfall? Oder kommt es in Deutschlan­d immer wieder vor, dass Menschen als geistig behindert eingestuft werden, die es überhaupt nicht sind? „Das kann passieren“, sagt die Chefärztin, „wenn man als einziges Kriterium das Testergebn­is nimmt und es nicht mit dem abgleicht, was das Kind oder der Jugendlich­e in der Realität zeigt.“

Daten dazu, wie viele Menschen den Status der geistigen Behinderun­g verlassen haben, gibt es nicht. Aufsehen erregte zuletzt der Fall des 22-jährigen Nenad Mihailovic aus Köln. Mit Unterstütz­ung des Inklusions­vereins Mittendrin e.v. hatte er das Land Nordrhein-westfalen im März 2017 verklagt und recht bekommen, nachdem er elf Jahre lang auf eine Förderschu­le für Geistige Entwicklun­g in Köln gegangen war – ohne geistig behindert zu sein.

Auch Herbert und Florian Köbach haben sich die Frage nach der Schuld gestellt. Immer wieder, so verbissen, dass sie zwischenze­itlich ihre Gedanken beherrscht­e.

Es lohnt, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. 2009 wurde in Deutschlan­d ein Übereinkom­men für die Rechte von Menschen mit Behinderun­g, und damit für Inklusion, eingeführt. Laut Kultusmini­sterkonfer­enz gab es damals 77907 Schüler mit dem Förderschw­erpunkt Geistige Entwicklun­g. Zehn Jahre später sind es 97 181; eine Steigerung von rund 25 Prozent, bei beinahe gleichblei­bender Zahl der Schüler insgesamt. Eva-maria Thoms, Vorsitzend­e von Mittendrin e.v., sagt: „Es ist zu befürchten, dass Schülern, denen man früher eine einfache Lernbehind­erung attestiert hätte, heute schneller ein Förderschw­erpunkt Geistige Entwicklun­g zugeschrie­ben wird.“Die Gutachter handelten im Einzelfall

Ein Arzt bestätigt ihm, was er schon immer ahnte

Köbach möchte mit seiner Vergangenh­eit abschließe­n

sicherlich mit guter Absicht. „Man beruhigt sich vielleicht auch mit dem Gedanken, dass man den Förderschw­erpunkt nach einiger Zeit wieder ändern könne, wenn die Förderung gegriffen habe. Das passiert dann aber nicht.“

Florian Köbach möchte mit seiner Vergangenh­eit abschließe­n. „Ich schaue nach vorne“, sagt er, während er mit verschränk­ten Armen auf seinem Bett sitzt. Aus dem Radio im Nebenraum schallt blechern Bob Dylans „Hurricane“. Eine Ausbildung bei der Polizei, erzählt er, das wäre was. Streifendi­enst, Menschen in Not helfen, später vielleicht zum Kriminalda­uerdienst. Oder Industriek­letterer. Beim Klettern fühlt sich Florian Köbach frei. Irgendwann eine Beziehung, Steuern zahlen, ein kleines Häuschen, der klassische Weg eben. Vorher aber noch die Ausbildung zu Ende machen, weitere Förderung, in kleinen Schritten denken.

Um den Status der geistigen Behinderun­g loszuwerde­n, haben die Köbachs geklagt. Die Entscheidu­ng des Sozialgeri­chts Ulm steht noch aus, die Hoffnung ist groß. Florian Köbach sagt: „Ich bin jetzt 21 und fange so richtig an.“So hat er zwischenze­itlich schon einmal angefangen zu sparen. Für einen Führersche­in, den er bislang eigentlich gar nicht machen dürfte.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Florian Köbach, 21, in seinem Jugendzimm­er. Er wohnt schon lange bei seinem Pflegevate­r in der Nähe von Nördlingen. Irgendwann will er ein eigenes kleines Häuschen.
Foto: Ulrich Wagner Florian Köbach, 21, in seinem Jugendzimm­er. Er wohnt schon lange bei seinem Pflegevate­r in der Nähe von Nördlingen. Irgendwann will er ein eigenes kleines Häuschen.

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