„Ich bin nicht geistig behindert“
Soziales Als Florian Köbach im Grundschulalter ist, misst ein Arzt seinen Intelligenzwert. Der Junge wird auf eine Förderschule geschickt. Jahre später wird aber ein ganz anderer Wert ermittelt. Inzwischen hat er seinen Mittelschulabschluss nachgeholt. Und zieht vor Gericht
Riesbürg Im kalkweißen Haus an der Goldburghauser Straße gibt es vor der Vergangenheit kein Entrinnen. Florian Köbach kommt an ihr vorbei, wenn er morgens ins Bad schlurft und er steigt darüber, wenn er sich abends auf das rote Stoffsofa im Wohnzimmer setzt. Die Ordner mit seiner bisherigen Lebensgeschichte umfassen unzählige Seiten Papier: Gutachten, Gerichtsakten und Behördenbriefe. Vor 15 Jahren bescheinigte ein Arzt dem damals Sechsjährigen, er sei geistig behindert. Er besuchte eine Schule für Geistige Entwicklung und lernte, wie man Müll sachgemäß entsorgt und bis 100 zählt. Eine praktische
Bildung, die es den Schülern später erlauben soll, ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Heute fragt er sich, ob alles hätte anders kommen können, irgendwie besser.
An einem Dienstag sitzt Köbach im Wohnzimmer auf der Sofakante. Es riecht nach Filterkaffee und warmem Druckerpapier. Vor ihm liegen dutzende schwarze Aktenordner. Er öffnet einen und zieht jenes Dokument heraus, das sein bisheriges Leben in einem anderen Licht erscheinen lässt. 14 Din-a4-seiten, auf denen ein Arzt schreibt, was Köbach schon immer ahnte: dass er nicht geistig behindert ist.
Einem Verzeichnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge haben Menschen mit einem Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 50 und 69 eine leichte geistige Behinderung. Wer betroffen ist, kann ein sogenanntes Intelligenzalter zwischen neun und zwölf Jahren erreichen. Bei seinem ersten Test im Grundschulalter stellte der Arzt bei Florian Köbach einen IQ von 64 fest. Er wurde in die Förderschule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche geschickt, von denen manche nicht sprechen, andere nicht laufen können und in der es keine schriftlichen Tests gibt. Auch einen Abschluss machte er in zwölf Jahren dort nicht.
Unter Psychiatern und Ärzten gilt eine geistige Behinderung als nicht heilbar. Was aber, wenn die Diagnose nicht stimmt?
Als Köbach 14 Jahre später auf eigenen Wunsch ein weiteres Mal untersucht wird, stellte ein Arzt einen Intelligenzquotienten von 86 fest – und damit eine Begabung im Normalbereich. Nun fragt Florian Köbach sich, weshalb er nie auf eine normale Schule gehen durfte. Warum er einen grün-orangefarbenen Behindertenausweis hat, Grad 80 von 100, schwerbehindert.
Im Grunde war es nur ein Mensch, der jemals bedingungslos an Florian Köbach geglaubt hat. Sein ehemaliger Pflegevater Herbert Köbach, 65, jetzt sein Berufsbetreuer. Ein kräftiger Mann mit braun gebrannter Haut und Halbglatze. Erzählt er, wie der Behindertenstatus Florians Leben beeinträchtigt, spricht er in Superlativen und in seinen Augen blitzt der Groll.
Florian Köbach bleibt vieles verwehrt, was für einen Menschen ohne geistige Behinderung selbstverständlich ist. Er dürfe keinen Führerschein machen, sagt er. Außerdem sei er zwar bei der Dorffeuerwehr, dürfe aus rechtlichen Gründen aber nicht mit zu Einsätzen.
Florian Köbachs Zimmer, ein anderer Tag. Halb zugezogene Wollvorhänge, das letzte Stoßlüften ist eine Weile her. Auf dem Nachttisch stehen zwei benutzte Müslischüsseln. An der Wand hängt ein Vogelhäuschen, Köbach hat es in der Berufsschule gebaut. Über dem Bett findet sich ein Wimpel des FC Bayern. Köbach liebt Fußball, hat selbst länger im Dorfverein gekickt. Bis die Hänseleien der Mitspieler zu viel wurden. Einen geistig Behinderten, so erzählt er es, wollte man nicht dabeihaben. Und als Köbach in der Pubertät ein Mädchen aus seinem Dorf kennenlernte, das ihm gut gefiel, soll es davongerannt sein, als er von seiner Diagnose erzählte.
Spricht Herbert Köbach davon, wie Florian damals zu ihm kam, stockt seine Stimme und seine Augen werden feucht. Bevor Köbach an jenem Apriltag vor zehn Jahren seinen Anrufbeantworter abhörte, hatte er mit seinem Leben abgeschlossen. Er war gerade von einer Beerdigung nach Hause gekommen: sein Sohn, überrollt von einem Zug. und vorbei, dachte er noch, während er den Telefonhörer in die Hand nahm und auf den Abspielknopf drückte. Man habe da einen geistig schwer behinderten Buben, sagte die Frau vom Jugendamt, ganz schwieriger Fall. Köbach, der zuvor schon Pflegekinder bei sich aufgenommen hatte, sah darin ein Zeichen des Himmels.
Als Florian das erste Mal bei ihm auftauchte, sei das beängstigend gewesen, sagt Köbach heute. Ein pummeliger Elfjähriger, der kaum sprach. Wie der rätselhafte Findling Kaspar Hauser habe er sich verhalten, wie ein wildes Tier.
Von seiner Kindheit erzählt Florian Köbach selten und zögerlich. Bis er zu Herbert kam, sei er bei seiner Mutter aufgewachsen, seinen leiblichen Vater habe er nie kennengelernt. Schwieriges Umfeld, kaum Förderung oder soziale Kontakte. Ein Psychologe diagnostizierte dem Kind damals eine massive Entwicklungsverzögerung. Florian zog bei Herbert ein und nahm seinen Nachnamen an. Die beiden fuhren in den Urlaub, nach Kroatien und Frankreich. Sie gingen wandern und Herbert redete über das Leben. Florian nannte Herbert Papa und Herbert sah etwas in Florian, das sonst keiner sah: Potenzial.
Von dem Jungen von damals ist heute kaum mehr etwas geblieben. Ein wuchtiger junger Mann mit breiten Armen und weichen Gesichtszügen, der so groß ist, dass er beinahe an die Zimmerdecke stößt.
Einer, der noch immer wenig spricht, dann aber viel sagt. Dank Herbert Köbach wird er jetzt gefördert, nimmt regelmäßig Nachhilfe in Deutsch, Englisch und Sozialkunde. Außerdem besucht er eine Logopädin, um das Stocken in der Stimme in den Griff zu bekommen.
Florian Köbach hat vieles erreicht, was ein geistig Behinderter kaum erreichen kann. Er war Schulsprecher an der Förderschule. Er suchte sich selbstständig Praktika, auf dem Bau, beim Roten Kreuz und bei der Bahn. Dort habe man ihn gefragt: Warum hast du einen Behindertenausweis, du bist doch ganz normal? Zwischenzeitlich hat Köbach seinen Mittelschulabschluss nachgeholt, in Donauwörth macht er eine Ausbildung zum Holzfachwerker. Grassiert keine Pandemie, fährt er selbstständig jeden Morgen mit dem Zug dort hin.
Köbach sagt, er sei sich durchaus bewusst, dass er aufgrund seiner Vergangenheit Einschränkungen habe. „Ich bin seelisch behindert, nicht geistig.“
Warum? Diese Frage stellen sich Florian und Herbert Köbach oft. Wie konnte passieren, was passiert ist? Ärzte und Psychologen, die Florian Köbach unlängst untersucht haben, liefern in ihren Gutachten Erklärungsversuche. Einer davon: Köbach hat eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS), die lange nicht behandelt worden sei. Erst seit November 2019 nimmt er Medikamente dagegen. Bei den zwischenaus zeitlich durchgeführten Iq-tests schreibt ein Facharzt in einem Gutachten, könne ein leistungsmindernder Einfluss auf das Ergebnis durch die noch unzureichend berücksichtigte Aufmerksamkeitsstörung nicht ausgeschlossen werden.
Viele Male wurde Florian Köbach im Laufe der Jahre durchleuchtet. Die Ergebnisse der Intelligenztests verbesserten sich beinahe mit jedem Mal. Wie kann das sein? Ein Anruf bei der Professorin und Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Josefinum Augsburg, Michele Noterdaeme. Entwicklungsrückstände, erklärt sie am Telefon, und eine ungewohnte Situation beim Test könnten durchaus dazu führen, dass ein Kind nicht sein volles Potenzial zeige. „Das kann das Ergebnis erheblich verfälschen.“Umgekehrt sei es auch nicht verwunderlich, wenn sich das Ergebnis nach jahrelanger, intensiver Förderung verbessere. Das Testverfahren soll das Potenzial eines Menschen zeigen, nicht seine momentane Leistungsfähigkeit. Noterdaeme sagt: „Ein Befund ist kein Befund, ich empfehle immer, mehrmals und zeitversetzt zu testen.“
Ist Florian Köbach ein Einzelfall? Oder kommt es in Deutschland immer wieder vor, dass Menschen als geistig behindert eingestuft werden, die es überhaupt nicht sind? „Das kann passieren“, sagt die Chefärztin, „wenn man als einziges Kriterium das Testergebnis nimmt und es nicht mit dem abgleicht, was das Kind oder der Jugendliche in der Realität zeigt.“
Daten dazu, wie viele Menschen den Status der geistigen Behinderung verlassen haben, gibt es nicht. Aufsehen erregte zuletzt der Fall des 22-jährigen Nenad Mihailovic aus Köln. Mit Unterstützung des Inklusionsvereins Mittendrin e.v. hatte er das Land Nordrhein-westfalen im März 2017 verklagt und recht bekommen, nachdem er elf Jahre lang auf eine Förderschule für Geistige Entwicklung in Köln gegangen war – ohne geistig behindert zu sein.
Auch Herbert und Florian Köbach haben sich die Frage nach der Schuld gestellt. Immer wieder, so verbissen, dass sie zwischenzeitlich ihre Gedanken beherrschte.
Es lohnt, einen Blick auf das große Ganze zu werfen. 2009 wurde in Deutschland ein Übereinkommen für die Rechte von Menschen mit Behinderung, und damit für Inklusion, eingeführt. Laut Kultusministerkonferenz gab es damals 77907 Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Zehn Jahre später sind es 97 181; eine Steigerung von rund 25 Prozent, bei beinahe gleichbleibender Zahl der Schüler insgesamt. Eva-maria Thoms, Vorsitzende von Mittendrin e.v., sagt: „Es ist zu befürchten, dass Schülern, denen man früher eine einfache Lernbehinderung attestiert hätte, heute schneller ein Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung zugeschrieben wird.“Die Gutachter handelten im Einzelfall
Ein Arzt bestätigt ihm, was er schon immer ahnte
Köbach möchte mit seiner Vergangenheit abschließen
sicherlich mit guter Absicht. „Man beruhigt sich vielleicht auch mit dem Gedanken, dass man den Förderschwerpunkt nach einiger Zeit wieder ändern könne, wenn die Förderung gegriffen habe. Das passiert dann aber nicht.“
Florian Köbach möchte mit seiner Vergangenheit abschließen. „Ich schaue nach vorne“, sagt er, während er mit verschränkten Armen auf seinem Bett sitzt. Aus dem Radio im Nebenraum schallt blechern Bob Dylans „Hurricane“. Eine Ausbildung bei der Polizei, erzählt er, das wäre was. Streifendienst, Menschen in Not helfen, später vielleicht zum Kriminaldauerdienst. Oder Industriekletterer. Beim Klettern fühlt sich Florian Köbach frei. Irgendwann eine Beziehung, Steuern zahlen, ein kleines Häuschen, der klassische Weg eben. Vorher aber noch die Ausbildung zu Ende machen, weitere Förderung, in kleinen Schritten denken.
Um den Status der geistigen Behinderung loszuwerden, haben die Köbachs geklagt. Die Entscheidung des Sozialgerichts Ulm steht noch aus, die Hoffnung ist groß. Florian Köbach sagt: „Ich bin jetzt 21 und fange so richtig an.“So hat er zwischenzeitlich schon einmal angefangen zu sparen. Für einen Führerschein, den er bislang eigentlich gar nicht machen dürfte.